Lohn lohnt sich wieder

Die neue Großzügigkeit bei den Löhnen soll vor allem die »Leistungsträger« des Landes betreffen. Die anderen haben ja schon Hartz IV. von georg fülberth

Wer will, darf sich die Augen reiben. Jahrelang galt als herrschen­de Lehre, nur Zurückhaltung bei den Löhnen und Sparsamkeit bei den öffentlichen Haushalten könnten die Wirt­schaft wieder auf Touren bringen. Jetzt aber ermuntert die SPD die Gewerkschaften, bei der nächsten Tarifrunde kräftig zuzulangen. Die CDU sekundiert, und die Bild-Zeitung rechnet ihren Leserinnen und Lesern vor, wie gut die Firmen dastehen, in denen sie arbeiten, und wie viel sie von ihren Bossen verlangen dürfen. Die IG Metall kündigt Forderungen nach Lohnerhöhungen bis sieben Prozent an, und sogar die Unternehmer der Branche wollen sich diesmal nicht lumpen lassen. Man habe tatsächlich schöne Gewinne gemacht. Wenn die Binnenkaufkraft wachse, würden diese noch größer, und dagegen habe man nichts.

Die Keynesianer haben das schon immer gesagt und gefordert. Ihre Gegner, die Neolibe­ralen, könnten ihnen allerdings vorrechnen, der gegenwärtige Aufschwung sei ein Ergebnis ihres konsequenten Marktradikalismus. Als die Geschäfte schlecht gingen, seien die Löhne und Steuern gesenkt und Belegschaften abgebaut worden. Dadurch hätten die Unternehmer wie­der Freude am Leben und am Investieren gewonnen. Deshalb sei jetzt der Aufschwung da, mit neuen Jobs und der Aussicht auf steigende Einkommen auch für abhängig Beschäftigte.

Man kann sich aus diesem Streit der Schulen heraushalten, indem man den Hundertjährigen Ökonomischen Kalender bemüht: Nach jeder Rezession kommt ein Aufschwung, ganz egal, was die Ökonomen lehren und wer gerade regiert. Circa alle zehn Jahre gibt es einen Einbruch, danach geht es wieder aufwärts. Das be­stätigt auch der Blick in die jüngere Vergangenheit.

Im Jahr 1993 war das Bruttoinlandsprodukt um 0,8 Prozent zurückgegangen, 1994 stieg es um 2,7 Prozent. Im Jahr 2000 wurde sogar ein Anstieg von 3,2 Prozent verzeichnet. 2003 schließlich ging es abwärts mit der Konjunktur (minus 0,2 Prozent), seitdem berappelt sie sich wieder. Für das kommende Jahr rechnen Wirtschaftsexperten mit einem Wachstum von 2,8 Prozent. Verläuft der jetzige Zyklus (2003 ff.) analog zum vorangegangenen (1993 bis 2003), dann müsste die Wirtschaft 2010 besonders boomen, bevor es ab 2013 wieder für einige Zeit abwärts geht. (Verlassen kann man sich allerdings auf solche Prophezeiungen nicht. Sie sind halt Sozialwissenschaft.)

Nichts Neues also? Vielleicht doch. Niemals mehr seit dem Jahr 1969, als der damalige Wirt­schaftsminister Karl Schiller den spontanen Streiks der Stahlkocher und Bergarbeiter zujubelte, sind die Gewerkschaften so von der Regierung und der Öffentlichkeit zum Handeln animiert worden wie jetzt.

Ein wenig hat das wohl mit der für den 1. Januar angekündigten Erhöhung der Mehrwertsteuer zu tun. Damit es keinen Konjunktureinbruch gibt, empfiehlt es sich, die Kauflust durch lautes Anfeuern zu beflügeln, auch wenn die alten Tarifverträge noch in Kraft sind. In diesem Jahr gingen die Menschen ans Ersparte, um vorgezogene Käufe zum alten Mehrwert­steuer­satz zu tätigen. Nun werden sie dazu animiert, sofort nach Neujahr Vorschüsse auf Lohnerhöhungen zu nehmen, die erst später kommen sollen. Das nennt man dann einen »selbsttragenden Aufschwung«.

Den am Export orientierten Unter­nehmen und den Finanzdienstleistern hat es in der Vergangenheit nicht viel ausgemacht, dass die Reallöhne sanken. (In den Jahren 2002 und 2003 waren es jeweils 0,4 Prozent, 2004 stie­gen sie vorübergehend um 0,8 Prozent, 2005 sanken sie um 1,6 Prozent.) Der Export lief gut, an den interna­tionalen Finanzmärkten ließen sich Profite abgreifen. Durch die Riester-Rente und die sich anbahnende Teil­privatisierung der Krankenversicherung wurden neue Marktsegmente erschlossen. Auf diesen Feldern sieht es auch weiterhin gut aus. Aber zusätzliche Kaufkraft auf dem Binnen­markt etwa für den Einzelhandel ist gern gesehen.

Noch gibt es ein bisschen Streit darüber, wie die Lohnerhöhungen konkret zu entrichten sind – als Einmalzahlung oder prozentual über die Monate verteilt. Die Unternehmer vergessen auch in der neuen Situation nicht eine der Hauptforderungen ihrer »Initiative Neue Marktwirtschaft«, die Flexibilisierung der Tarifpolitik. Nur gut gehende Betriebe sollen danach mehr zahlen. Die Schwächeren dürften wie bisher knausern, weil sie angeblich nicht anders können. Mit festen Flä­chen­tarifverträgen sei das nicht zu machen. So gehe es zum Beispiel der Bauwirtschaft mal gut und mal schlecht. Man hofft wohl, im Aufschwung mehr Verbünde­te für dieses Vorhaben zu gewinnen, zum Beispiel die Beschäftigten in boomenden Industriezweigen, vor allem in der Metall- und in der Chemiebranche.

Dann gibt es noch den Vorschlag mit dem Investivlohn. Ein Teil der Einkommen der Lohnabhängigen soll in den Unternehmen bleiben und für die Rente zurückgelegt wer­den. Die Prinzipale sparen damit Lohnneben­kosten. Beträge, die bislang den Sozialver­sicherungen zugeführt wurden, bleiben im Betrieb und können gewinnbringend entweder für Investitionen oder Finanztransaktionen eingesetzt werden.

Die SPD allerdings befürchtet, dass die eingelegten Löhne flöten gehen, wenn die Firma pleite ist. Hier könne eine Staats­garantie helfen. Den Unternehmern passt das gut, denn es würde eine Sozialisierung der Verluste bedeuten. Eine solche Staatshilfe wäre nützlich auch ohne Insolvenz, denn die Kreditwürdigkeit und damit Aktionsfähigkeit eines Unternehmens würde verbessert, wenn für einen Teil seines Kapitals eine öffentliche Bürgschaft bestünde.

Bevor die neue Euphorie ausbrach, war es in der Debatte eher um die niedrigen Einkommen gegangen. Mindest- und Kom­bi­löhne waren im Gespräch wie auch eine ­etwaige kostenneutrale Anhebung des Arbeitslosengeldes I (für Leistungswillige) zu Lasten des Arbeitslosengeldes II (für Untüch­tige). Letztgenanntes hatte Jürgen Rütt­gers (CDU) in die Diskussion gebracht. Kurt Beck (SPD) gab innerhalb weniger Wochen drei Parolen aus. Erstens, die SPD ist die Partei der »Leistungsträger«. Zweitens, die Unterschicht gehört nicht zu ihrer Klientel, macht ihr vielmehr Sor­gen wegen des Mangels an Bildungs- und Aufstiegsbereitschaft. Drittens, »Leis­tungsträger« sollen mehr Lohn be­kommen.

In allen drei Punkten ist sich Beck mit Angela Merkel einig. Die Große Koalition ist nämlich nicht nur eine parlamen­tarische Verlegenheitslösung, sondern ein sozialökonomisches Projekt. Ihre Ba­sis ist ein Klassenbündnis aus dem Kapital einerseits, aus lohn- und gehaltsabhängigen sowie flexibel einsatzfähigen (schein-)selbständigen »Leistungsfähigen« in florierenden Wirtschaftszweigen andererseits. Diese Menschengruppe wird durch Konkurrenz schrumpfen und ist schon deshalb eine »Elite«.

Auch während der konjunkturbeding­ten Entspannung auf dem Arbeitsmarkt bleibt nämlich eine Grundtendenz: Die großen Unternehmen werden langfristig Arbeitskräfte abbauen. Die Betroffe­nen können möglicherweise noch eine Weile von einer verlängerten Bezugszeit des Arbeits­losengeldes I profitieren. Dies aber wohl nur so lange, wie die Konjunktur es zulässt.

Eine Ebene darunter ist die Unterschicht, unverändert. Da kann man wohl nichts mehr machen.

So zeichnen sich die Konturen eines neuen Modells Deutschland ab.