Golf mit Kommissaren

Der Einbruch der Globalisierung in den Dunstkreis der EU-Verwaltung hat keineswegs ein soziales Europa zur Folge. von lucien maigret, brüssel

Über den EU-Kommissar Vladimír Špidla erzählen seine Mitarbeiter gerne Folgendes: Der Herr Kommissar sei ein begeisterter Kletterer. Obwohl er ein sehr guter und sicherer Bergsteiger sei, verwende er doch prinzipiell ein Seil, denn auch der Beste könne einmal von einem herabfallenden Felsbrocken getroffen werden oder ausrutschen. Und dann sei es eben gut, das Seil zu haben, selbst wenn es vorher mühsam war, es während der ganzen Tour mitzuschleppen.

Beratung zum Thema »Sicherheit am Berg« gehört bis jetzt noch nicht zu den Zuständigkeiten der Europäischen Union. Wenn die Brüsseler Beamten die bergsteigerischen Fähigkeiten ihres Chefs loben, dann meinen sie natürlich Folgendes: Der Tscheche, der in der EU zuständig für Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit ist, glaubt an die Bedeutung sozialer Sicherungssysteme.

Dergleichen muss man schon eigens betonen im Brüsseler Haifischbecken, wo ein einigermaßen aufrechter Sozialdemokrat wie Špidla ständig Gefahr läuft, von neoliberalen Hardlinern wie dem irischen Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy oder dem für Handel zuständigen Engländer Peter Mandelson zum Frühstück verspeist zu werden. Auch der Deutsche Günter Verheugen, der für seinen erfolgreichen Einsatz als Erweiterungskommissar 1999 bis 2004 mit dem prestigeträchtigen Ressort Industriepolitik belohnt wurde, eigentlich ein Parteifreund Špidlas, ist längst zum Lager derjenigen übergewechselt, die fortwährend wiederholen, die EU müsse einen neuen Unternehmergeist fördern, sie müsse dafür sorgen, dass der Kündigungsschutz abgebaut wird, damit Unternehmer »flexibler« Leute feuern und anheuern können, und sie müsse auch sonst allerhand Vorschriften abschaffen, um Firmen das Agieren auf dem europäischen Markt zu erleichtern.

Wenn aber Gewerkschafter darauf hinweisen, dass die von der Brüsseler Verwaltung beförderte schöne neue Unternehmerwelt mit dem Preis der Prekarisierung großer Teile der Arbeitnehmerschaft erkauft wird, dann weist der gewandelte Sozialdemokrat Verheugen zusammen mit Mandelson und dem Liberalen McCreevy alle Verantwortung von sich und der EU.

Die EU ist demnach schon hinreichend damit beschäftigt, den widerstrebenden Mitgliedsstaaten den Nutzen der viel beschworenen Wettbewerbsfähigkeit nahe zu bringen. Geht es darum, die Auswirkungen auf diejenigen zu verringern, die als »Leistungsträger« vorübergehend oder auch langfristig nicht gebraucht werden, dann greift das so genannte Subsidiaritätsprinzip, demzufolge die jeweils kleinste geographische Einheit zuständig ist, wenn sie eine Aufgabe genauso gut oder besser erledigen kann wie die nächstgrößere.

Als Ende November bekannt wurde, dass der Konzern Volkswagen plant, die Produktion des Golf in seinem Werk im Brüsseler Stadtteil Forest einzustellen und die meisten der 5 400 Arbeitsplätze dort abzubauen, war es denn auch nicht, wie man hätte erwarten können, der deutsche Industriekommissar, der vermittelnd eingriff. Vielmehr machten sich Špidla und seine polnische Kollegin Danuta Hübner auf die kurze und doch sehr weite Reise in das etwa fünf Kilometer von der Kommissionszentrale entfernte VW-Werk, um streikenden Arbeitern darzulegen, was die EU für sie tun kann – nämlich nach wie vor herzlich wenig.

Hübner konnte zwar auf die Schließung der englischen Rover-Werke vor zwei Jahren verweisen, den größten so genannten Restukturierungsfall bisher, in dem die EU Sozialfonds sowie Fonds für regionale Entwicklung einsetzte. Die Aussicht auf Fortbildungsmaßnahmen und etwas Beratung für den Start in die Unabhängigkeit konnte die etwa 4 000 von der Entlassung bedrohten Brüsseler Arbeiter aber nicht wirklich begeistern. Und als Špidla auf den Globalisierungsausgleichsfonds angesprochen wurde – eine Maßnahme, die zum Abschluss der britischen EU-Präsidentschaft von den Regierungschefs mit großem Tamtam beschlossen worden war –, konnte er nur bedauernd mit den Schultern zucken: Der Fonds ist noch nicht einmal vom Europa-Parlament und dem Rat – der Vertretung der Mitgliedsstaaten – beschlossen; geschweige denn, dass das Geld – es geht um eine halbe Milliarde Euro pro Jahr – bereits verfügbar wäre.

Zudem soll der Fonds nur dann zum Einsatz kommen, wenn Arbeitsplätze aus der EU in Drittländer verlagert werden. An dieser Lieschen-Müller-Definition von Globalisierung könnte sich zwar theoretisch noch einmal etwas ändern, wenn das EU-Parlament am Mittwoch dieser Woche über den Fonds abstimmt. Das wird aber aller Voraussicht nach nicht geschehen, weil sich eine Parlamentsdelegation im Voraus mit dem Rat darauf geeinigt hat, den Anwendungsbereich des Fonds nicht weiter auszudehnen, um keinen Konflikt zwischen den EU-Institutionen auszulösen und damit wenigstens zu gewährleisten, dass das Geld bereits 2007 verfügbar ist.

So wird es wohl bis auf weiteres dabei bleiben, dass die EU in der Pose eines Marktschreiers, der nichts zu verkaufen hat, lauthals das europäische Sozialmodell anpreist und seine überragende Bedeutung für eine herbeigewünschte »europäische Identität« ausmalt, während in Wirklichkeit ohne die Großkonzerne und deren Lobbyisten in allen EU-Institutionen und den Regierungen der EU-Länder nichts geht.

Denn die Firmen – teilweise dieselben, die mit Massenentlassungen die Schlagzeilen bestimmen und wegen des angeblichen Globalisierungsdrucks Lohndrückerei betreiben – diktieren der EU-Kommission, was sie unter »sozial« zu verstehen hat. Erst vergangene Woche verabschiedeten sich Nichtregierungsorganisationen, darunter Amnesty International und Social Platform, die europaweite Vereinigung der Sozialverbände, verärgert aus einem von der Kommission geförderten so genannten Bündnis zur sozialen Verantwortung von Unternehmen. Diese »Corporate Social Responsibility« benutzen Großkonzerne gerne, um ihr Image in der Öffentlichkeit aufzupolieren. Das hat nur Sinn, meinen die Zivilgesellschaftler, wenn die Ergebnisse anerkannten Standards folgen und kontrollierbar sind.

Die Kommission unter Federführung von Verheugen hat sich jedoch auf den Standpunkt gestellt, die Firmen könnten selbst am besten definieren, was als sozial zu gelten hat. »Die Schaffung bestmöglicher Bedingungen für die Unternehmen stellt einen der Grundpfeiler der Strategie für Wachstum und Beschäftigung dar«, erklärte Verheugen am Freitag. »Verantwortungsvolle führende Unternehmen haben die Aufgabe, sich über die Perspektiven ihrer Mitarbeiter, die ökologischen Auswirkungen ihrer Tätigkeit und ihre Rolle in den lokalen Gemeinden Gedanken zu machen.«

Die Betriebsleitung von VW in Forest unterbreitete langfristigen Mitarbeitern, die das Unternehmen freiwillig verlassen, am selben Tag ein »letztes Angebot« für Abfindungszahlungen. Sie sollen einmalig maximal 22 000 Euro erhalten. An Mitarbeiter, die im Vorjahr im VW-Stammwerk in Wolfsburg entlassen wurden, hat Volkswagen nach Angaben der belgischen Tageszeitung Le Soir bis zu 200 000 Euro gezahlt.