Gehört, geheult, gestorben

Tom Reynolds würdigt die 52 deprimierendsten Songs der Popgeschichte. von uli krug
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Es wirkt schon obsessiv, wenn jemand mit gründlicher Recher­che­arbeit herauszufinden versucht, welches die 52 deprimierendsten Pop-Songs aller Zeiten sind, um sie dann in einem Buch ausführlich zu würdigen. Der Amerikaner Tom Reynolds hat sich diesem Selbstexpe­riment unterzogen. »I Hate Myself And Want To Die«, lautet der vielversprechende Titel.

Seine Biografie scheint Reynolds für die­ses Unterfangen zu qualifizeren. Zunächst ist er als Country-DJ an der Imitation des texanischen Idioms gescheitert, dann hat er Werbe­spots mit brüllenden Gebraucht­wa­gen­­händlern gedreht, schließlich all­abend­lich in einem Comedy-Club gearbeitet. Wäh­renddessen hat er im Kabelfernsehen Rea­lity-Shows über fummelnde Spätpuber­tierende produziert und ist darüber schizoid geworden – um sich zu guter Letzt mit diesem Buch selbst zu kurieren. So stellt es jedenfalls der Hyperion-Verlag dar, der die amerikanische Originalausgabe herausgebracht hat; das Buch liegt aber inzwischen auch in deutscher Übersetzung vor.

Reynolds selbst macht für seinen Zwang, sich ausgerechnet mit den Songs zu beschäftigen, bei deren Erklingen man tunlichst schnell den Radiosender wechseln sollte, seine Eltern verantwortlich, besser gesagt: deren Plattensammlung. Insbesondere die Weihnachtszeit hatte verheerende Wirkung auf Klein-Tom, weil seine Eltern ihn mit neun verschiedenen Versionen von »What Child Is This« traktierten, der Heiligabend-Version des Traditionals »Green­sleeves«.

»Die lähmendste war Ray Conniffs Arrangement für Orchester und Chor; es klang, als hätten sich mindestens vier Dutzend Zombies auf einen mitternächtlichen Streifzug nach essbarem Gehirn begeben. Dieser untote Chor ächzender und klagender männlicher Stimmen löste bei mir fast jedesmal einen Heul­krampf aus«, klagt Reynolds.

Konsequenterweise kommt er am En­de seines Buches wieder auf Weihnachten zu sprechen: Song Nummer 52, der das Ka­pi­tel »Apokalypse« abschließt, ist »The Christmas Shoes« (2001) der christ­lichen Popgruppe Newsong – eine wirklich entsetzliche Schmonzette über zwei etwas verwahrloste Kinder, die ihrer daheim im Sterben liegenden Mutter am Heiligen Abend in einem großen Einkaufs­center noch goldfarbene Puschen kaufen wollen, damit Mom proper gekleidet vor den Herr­gott treten kann.

Noch entsetzlicher ist, dass die CBS diesen Unsinn schnur­stracks zu einem seither stets zu Weihnachten wiederholten Film mit Rob Lowe aufmotzte. Letztes Jahr lag das Ding wohl noch nicht in einer deutschen Synchronfassung vor, es empfiehlt sich aber trotzdem, beim diesjährigen Fei­er­­tagszappen auf der Hut zu sein.

Ansonsten führt die pophistorische Geis­terbahnfahrt durch säkulare Gefilde, in denen Ray Conniffs Zombie-Chor allerdings wohl recht wenig »essbares Gehirn« gefunden hätte, so tumb sind sowohl Text wie Musik von Reynolds’ Favoriten. Dass mehrere Breitseiten dabei dem Gesangsstil der großen Knödel-Königinnen des neueren (fälschlicherweise so genannten) Rhythm & Blues gelten, kommt zwar nicht eben unerwartet, ist aber dennoch erfreulich zu lesen. Es befriedigt einfach das Rache­bedürfnis der Leser in Zeiten, in denen Casting-Shows Schulmädchen präsentieren, die das ebenso hirnverbrannte wie tonleiter­übergreifende, »hochemotionale« Grölen von Anastacia imitieren, mit dem die Diva nahezu jedes große Sportereignis der letzten Jahre zu versauen versucht hat – Stichwort: WM-Hymne 2002.

Im Buch sind es Mariah Carey, Whitney Houston und Celine Dion, die stellvertretend dafür büßen müssen. Über Dions Cover von Eric Carmens »All By Myself« heißt es völlig zu Recht: »Sie geht mit einem wagnerianischen Organ auf ›All By Myself‹ los, als wolle man mit Kampfhubschraubern auf Fuchsjagd gehen. Es ist jenseits aller angemessenen Proportionen, geradezu kriminell.«

Aber sind das denn überhaupt die Songs, mit denen sich potenzielle Käu­fer eines eindeutig satirischen Buchs wie »I Hate Myself…« die Laune verder­ben würden? Hören sie häufig – außer unfreiwillig im Kaufhaus oder im Büro – Whitney Houston, heulsusige Teenie-Operas (Ray Petersons »Tell Laura I Love Her«), selbstmitleidige Country-Klagen (Kenny Rogers’ »Ruby Don’t Take Your Love To Town«), wich­tig­tue­rische Heroin-Lamentos (Billy Joels »Captain Jack«) oder die notorische Metal-Ballade (Kiss’ »Beth«)? Wahr­schein­lich nicht.

Doch keine Sorge: Zu humoristischen Höchstleistungen läuft Reynolds gerade bei den Interpreten auf, die im (ex-)studentischen Plattenschrank ein sicheres Plätzchen haben – seien es die Smashing Pumpkins, stellvertretend für den nörgeligen Indie-Rock der Neun­ziger, The Cure, die Hohepriester des Weinerlichkeitskults der Achtziger, oder auch Emerson, Lake & Palmer, gebasht für ihre Adeligen-Moritat »Lucky Man«.

Der Höhepunkt des Buchs aber ist Reynolds’ Erzählung aus der Perspektive eines imaginären Mitglieds der Doors, die davon handelt, wie die seit »Apocalypse Now« mit Napalm und Walkürenritt kontaminierte Sixties-Skandal-Hymne »The End« wirklich »vor fast 40 Jahren im Whiskey A Go Go in Los Angeles entstanden ist«.

Und zwar so: »Ihr gebt den Text eurem Sänger, den ihr vor einem halben Jahr zum ersten Mal getroffen habt und bei dem ihr noch nicht sicher seid, ob er ein Genie ist oder ein Axtmörder. ›Es heißt The End‹, sagt ihr und drückt ihm das Blatt in die Hand. ›Wer hat die ganzen Fledermäuse hier reingelassen?‹, murmelt er und fuchtelt mit dem Arm über dem Kopf herum.«

Nach der Lektüre steht fest: »The End« hat einen Stammplatz auf der Liste der besten Parodien der Rockge­schich­te verdient (neben Klassikern wie dem unfassbar komischen Pseudo-Militärmarsch »Cobwebs And Strange« von The Who) – Paro­dien müssen ja nicht immer beabsichtigt sein, um welche zu werden.

Der grauenhafteste Song, vor dem nicht genug gewarnt werden kann, ist Nummer 51: »The Shortest Story« von Harry Chapin aus der Kategorie des Singer/Songwriter-Agitprop. Er erzählt die Geschichte eines verhungernden Neugeborenen aus dessen Perspektive. Dieses Monstrum sollte schlicht übersprungen werden, während der Rest des Buchs für gute Laune sorgt.

Tom Reynolds: I Hate Myself And Want To Die. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2006, 300 Seiten, 14,90 Euro