Following The Leaders

Wie sieht es aus, wenn sich die wichtigsten Politiker der Welt treffen? Unser Reporter david reed war auf dem G8-Gipfel in St. Petersburg

Ich sitze in Russells Küche, die eigentlich eher ein Küchenwohnzimmer ist. Also vielleicht müsste ich sagen: Russell ist in der Küche, und ich sitze im Wohnzimmer. Na ja. Die Sache ist, da hat er recht, fol­gen­de: In meiner Geschichte »Faraway, so close« (Jungle World, 29/06) klang es so, als sei ich nur nach Deutschland gekommen, um das Finale der Fifa-WM™ zu sehen, was nicht ganz stimmt. Das Finale war nur ein Zwischenstopp auf dem Weg zu meiner Schwiegermutter, die ich sehr lange nicht gesehen habe. Glück­licherweise hat sie Verständnis dafür, dass nur alle vier Jahre Weltmeisterschaft ist, und macht deshalb nicht viel Aufhebens um meinen kleinen Umweg.

13. Juli, Tartu, Estland

Es ist toll, mit Mama und der Familie zusammen zu sein (#1). Aber nur ein paar hundert Kilometer entfernt werden sich bald George W. Bush, Wladimir Putin und andere Politiker der A-Kategorie treffen. Gut, das tun sie jedes Jahr, aber normalerweise viel weiter weg, und wo ich schon mal in der Gegend bin …

Verabschiede mich von meiner Schwiegermutter; besteige den Nachtbus nach St. Petersburg.

14. Juli, St. Petersburg, Russland

Ah, Russland. Ich war seit Jahren nicht mehr hier, aber alles sieht noch ziemlich genauso aus wie damals, außer dass jetzt jeder ein Mobiltelefon zu besitzen scheint. Was praktisch ist, da ich keine Geldwechselstube finde. Dabei muss ich meinen Freund Misha anrufen. Es ist mir ein bisschen peinlich. Letzte Woche habe ich einige Male angerufen, um zu fragen, ob ich bei ihm übernachten könne, und um ihm zu sagen, wann ich ankomme. Dummerweise habe ich vergessen, ihn nach seiner Adresse zu fragen. Ich war zwar schon einmal dort, kann mich aber nicht erinnern, wie man hinkommt. Vor einigen Wintern wurde mein Keller überschwemmt, dabei ging die Adresse verloren.

Ein liebenswürdiger Russe bietet mir sein Handy an. Ehrlich gesagt ist er nicht besonders liebenswürdig, aber glücklicherweise ist Gastfreundschaft in Russland tief in der Kultur verankert, und es gehört sich nicht, un­freund­lich zu einem Gast sein.

Doch, man kann: Die beiden Polizisten, die mich auf meiner Suche nach einem Wechselbüro anhalten (wegen meines verdächtigen Rucksacks, wie sie mir sagen), scheinen nichts dagegen zu haben, Gäste unfreundlich zu behandeln. Und wenn ich darüber nachdenke, war da noch dieser Typ an der Grenze, der mich beinahe nicht einreisen ließ, weil er fürchtete, ich (oder die Jungle World) könnte »antiglobalistisch« sein. Am Ende ließ er mich durch, aber nicht ohne einen flehenden Blick, ich möge bitte, bitte nichts Antiglobales oder sonst etwas tun, das ihn in Schwierigkeiten bringen könnte, weil er es war, der mich ins Land gelassen hat.

Wo war ich? Ich schaffe es also endlich zu Misha und Swieta, und es ist schön, bei ihnen zu sein. Aber heute fliegen viele ausländische Würdenträger ein, und ich möchte nichts verpassen. Nach der Fahrt in einer U-Bahn, einem Bus und einer Fähre erreiche ich das Pressezentrum viel zu spät für einen Pool-Pass, der es mir erlauben würde, auf dem Asphalt des Flughafens zu stehen und dort die Ankünfte zu beobachten. Ich hatte mein Herz daran gehängt, weil ich noch nie das Flugzeug eines Staats­oberhaupts gesehen habe, aber morgen und am Sonntag werden weitere kommen. Viel­leicht schaffe ich es dann.

Immerhin habe ich meinen Presseausweis (#2) und weiß jetzt, wie das mit den Pools funk­tioniert. Das Pressezentrum ist großartig organisiert; mit einem Restaurant (all-you-can-eat-and-drink), jeder Menge Computern, draht­losen Internetverbindungen und Telefonen für internationale Gespräche (all-you-can-talk). Auch sorgen sie dafür, dass man sich von den vielen Angeboten erholen kann (#3). Es gibt sogar Fotografen, die die Gegend durchstreifen und jeden fotografieren, der so aussieht, als würde er arbeiten. Die Fotos werden zügig auf der G 8-Website veröffentlicht, um zu zeigen, dass man tatsächlich zum Gipfel gefahren ist und wirklich an Artikeln arbeitet und nicht bloß im Restaurant sitzt. Bei dem Foto von mir erkennt man glücklicherweise nicht, dass ich an meinem Weltmeisterschaftsartikel arbeite, was ich genauso gut zu Hause oder bei meiner Schwiegermutter tun könnte.

Hole meine Souvenirtasche ab, komplett mit G 8-Jacke, G 8-T-Shirt, G 8-Stift, G 8-Notizbuch. Dazu gibt es Saft, eine CD mit einer Petersburger Auswahlmusik, eine DVD, einen Stadtführer und Kühlschrankmagnete. Auf der Fahrt in einem »Meteor«-Boot mit vollem Magen und leichtem Sausen im Kopf von dem Glas Wein weiß ich das russische Bedürfnis, sich um Gäste zu kümmern, sehr zu schätzen.

15. Juli

Verschlafe. Beschließe, eine neue Fotoserie zu beginnen: unscharfe Bilder künstlerischer Porträts berühmter Personen (#4). Papa Joe beobachtet mich von drei der vier Wände meines Zimmers (in der vierten ist ein großes Fens­ter und wenig Platz für Dekorationen). Misha merkt, dass mich das etwas verunsichert, und erklärt, dass er sowjetische Dinge sammelt.

Eile zu den Demonstrationen am Kirow-Stadion. Für die Gegendemonstrationen haben sie geschickterweise den abgelegensten Ort der ganzen Stadt ausgewählt. Wer das nicht respektiert und anderswo demonstrieren will, wird sofort verhaftet. Das Stadion befindet sich am hinteren Ende eines großen Parks, der für den Straßenverkehr gesperrt ist, so dass es eine Rundreise von drei bis vier Stunden bedeutet, wenn man eine Pause vom Gipfel machen und über die Demonstrationen berichten möchte. Man darf im Park Inline­skates fahren, was viele auch tun. Auf Skates könnte man wahrscheinlich eine halbe Stunde sparen, vorausgesetzt man ist schnell beim An- und Ausziehen. Aber bei Skating-Geschwindigkeit würde man so manches übersehen. Die Blaskapelle zum Beispiel, die Werbung für Holsten-Bier macht und zu der einige hübsche junge Frauen gehören, die Handzettel und merkwürdige Hütchen verteilen (#5). Außerdem würde niemand einen anhalten und darum bitten, ein Foto zu machen.

Die Demonstration sieht ein bisschen traurig aus (#6, #7). Das Essen ist umsonst (#8) und von der einfachen Sorte, aber nicht weniger willkommen als die Luxuskost beim Gipfel. Das größte Kontingent im Stadion stellt offenbar die Trainingsgruppe von Falun Gong (#9). Ein deutscher Reporter hat den vielleicht letzten deutschen Marxisten ausfindig gemacht, der sich eine Auszeit von seiner Habilitation genommen hat, um zur Demonstration zu kommen. Es ist anscheinend gelungen sicherzustellen, dass die meisten der nicht verhafteten Ausländer in der Stadt auf der »globalistischen« Seite stehen.

Schaue auf die Uhr, die ich für den Zulassungstest zum Jurastudium gekauft habe (habe ich erwähnt, dass ich mit dem Gedanken spiele, Rechtsanwalt zu werden?), und stelle fest, dass Journalisten ohne Skates besser sofort aufbrechen sollten, wenn sie das Pressezentrum zu einer vernünftigen Zeit erreichen wollen. Mein Timing ist perfekt, und ich bin recht­zeitig zurück, um einen Pool-Pass für das nächste Event zu bekommen. Das glaube ich jedenfalls. Doch es stellt sich heraus, dass ich gestern etwas falsch verstanden habe. Nun gibt es nichts, was ich noch tun kann, außer die Gastfreundschaft zu genießen. Beschließe, früh zu Bett zu gehen.

Gehe also zurück zu Misha. Er hat einen befreundeten Journalisten eingeladen; dazu bietet er mir etwas an, das unter den G 8-Gaben fehlt: Wodka. Wie kann man bei so einer Gelegenheit früh ins Bett gehen?

16. Juli

Dennoch schaffe ich es, um fünf Uhr aufzustehen. Heute gibt es keine Spielerei mehr, also komme ich früh genug beim IMC an. Die Frau, die die Pässe ausgibt, ist überzeugt, dass ich Australier bin (es nutzt nichts, etwas anderes zu behaupten). Sie hat eine Vorliebe für mich entwickelt. Ich erkläre ihr, dass ich für die Jungle World arbeite, was das Lustigste zu sein scheint, das sie je gehört hat. Pflichtbewusst notiert sie alles. Danach bin ich stolzer Besitzer eines Ausweises für Pool Nummer Drei.

Gehe zur amerikanischen Delegation und bekomme einen Adapter für die russischen Steckdosen. Ich hatte befürchtet, mit den ­Adap­tern wäre es wie mit den Pool-Ausweisen. (Man bekommt nur dann einen, wenn man dafür bezahlt, im Gefolge von Präsident Bush zu reisen, aber anscheinend haben sie mehr Adapter als Pool-Ausweise.) Lade die Akkus der Videokamera auf, eile zum Pool-Treffpunkt.

Bush mag tough sein, aber persönlich macht er einen charmanten Eindruck. Als einziges Staatsoberhaupt fährt er sein Golfcart selbst, und als er am Pressebereich anhält, macht er ein kindliches Bremsgeräusch (»errrr«), springt aus dem Fahrzeug (#10) und zum Meeting. (Verdammt! Wäre es mir gelungen, das Weltmeisterschaftsfinale zu sehen, hätte ich ein bisschen Übung in Sportfotografie, und ich hätte die Sache besser in den Kasten bekommen!)

Unglaublicherweise ist sein Golfcart keine verbotene Zone, nachdem er ausgestiegen ist. Mache Fotos von der Stelle, an der Bush noch Augenblicke zuvor gesessen hat (#11). Entdecke etwas, das wie ein Fussel aussieht, was ein tolles Souvenir wäre. Ich berühre den Sitz, um es aufzuheben, aber es stellt sich heraus, dass es nur ein Fleck ist, und ich eile davon, bevor ich Schwierigkeiten kriege.

Komme gerade rechtzeitig für das nächste Event zurück. Die G 8-Leaders treffen sich mit den Junior-G 8-Leaders. Ich bin mir nicht sicher, was Junior-G 8-Leaders sind. Für mich ist die Hauptsache, dass ich erneut die Möglichkeit erhalte, die A-Kategorie zu sehen. Wir werden einige Treppen hinaufgeleitet, nur wenig langsamer als in einem Sprint, weil sich alle einen guten Platz erhoffen. Dann stehen wir in einem großen Raum mit einem runden Tisch für ungefähr 16 Personen. Alle strömen zu der einen Seite des Raums, damit sie Bush und Putin gegenüberstehen. Glücklicherweise interessieren sich nur ein einsamer AP-Fotograf und ich für den Spitzenplatz ein paar Schritte hinter Bushs Stuhl. Mache Fotos von dem Stuhl und von einem Typen, der hilft, dass alle ihre Weißwerte abgleichen können (#12). (Ich habe gehört, dass Tabakwerbung in Deutsch­land verboten ist – vielleicht sollte ich die Redaktion darum bitten, das anstößige Warenzeichen unkenntlich zu machen?)

Warte eine oder zwei Stunden; schließ­lich treffen die Staatsoberhäupter ein. Bush dreht sich um und posiert für ein Foto, und der AP-Fotograf und ich kriegen das beste Bild (#13). Dennoch gefällt mir ein anderes von seinem Fuß besser (#14). Ich war davon ausgegangen, dass wir beim Meeting dabei sein können, aber nach ein paar Minuten werden die unwichtigeren Journalisten (diejenigen ohne die begehrten gelben Armbänder) hinausgeführt. Warte unten auf die VIP-Journalisten und werde zusammen mit ihnen zurück zum Pressezentrum gefahren.

Als wir dort ankommen, bemerke ich einen weiteren Vorteil, der sich ergibt, wenn man den Fotografen gegenübersteht: Man erscheint auf ihren Fotos. Finde mich (oder zumindest einen Teil meines Hemdes) auf der G 8-Website wieder. Verschicke E-Mails mit dem Betreff »Ich bin berühmt«.

Aber ich habe keine Zeit, meinen Ruhm zu genießen. Die Leaders (fast hätte ich sie »Dear Leaders« genannt, aber ich habe sie mit jemand anderem verwechselt) sind dabei, sich für ein »Familienfoto« zu versammeln. Irgendwie habe ich einen Pool-Pass bekommen, der mir erlaubt, dabei zu sein. Das ist etwas Größeres als das Juniortreffen, und nachdem ich in einem Zelt darauf gewartet habe, dass der Regen aufhört (nicht nur gastfreundlich, auch umsichtig, diese russischen Gastgeber), beginnt ein kompromissloser Wettlauf um die besten Plätze auf dem Rasen. Es gelingt mir, ein anständiges Stück Wiese für mich zu reklamieren, aber es nützt nicht viel ohne eines dieser übergroßen Teleobjektive, die auch eine gute Masche sind, den Damen zu imponieren.

Hinterher bin ich der Erste, der zu den Platzmarkierungen eilt, wo die großen Leader standen. Eine amerikanische Fotografin ist stinkwütend auf mich, weil ich in ihr Bild gelaufen bin. Man kann die Markierungen von dort, wo alle stehen, nicht sehen, und sie fragt sich laut (sehr laut), warum ich nicht ein Foto von einem anderen Stück Gras mache anstatt mitten in ihrem Foto herumzustehen. Aber es ist zu spät – ich habe einen Trend in Gang gesetzt. Plötzlich wollen viele ein Bild von den Markierungen haben, und sie gibt es auf. Warte, bis alle fertig sind, und greife mir, als niemand hinsieht, ein bisschen Souvenir-Gras und einen der Stäbe von dem laminierten USA-Schild, das Bushs Platz markiert hat (#15).

Ich erhalte eine weitere Gelegenheit, die Amerikanerin verrückt zu machen. Diesmal passiert es versehentlich, als ich meine Kamera auf einen Wachmann richte. Der verlangt, dass ich das Foto lösche. Ich bin so ziemlich der Einzige mit einer Analogkamera und kann ihm nicht beweisen, dass ich gar kein Foto gemacht habe. Für ein paar Minuten sieht es so aus, als ob wir die nächste Fotogelegenheit verpassen werden, und die Amerikanerin schickt einen steten Strom von Beleidigungen in meine Richtung. Ich fühle mich schlecht und will nicht alle aufhalten, also biete ich an, den Wachen den Film auszuhändigen, aber unsere Begleitung klärt alles auf, und wir bekommen unsere Chance, im Regen zu stehen und auf die Würdenträger und ihre Gehilfen zu warten.

17. Juli

Mehr Regen. Der Pressebereich ist ein blaues Meer, weil alle ihre G 8-Souvenirjacken tragen, ob über Anzügen oder Jeans und Sweatshirts. Ich habe meine wieder vergessen, also bleibe ich in den Pressezelten, und es gelingt mir, mehr oder weniger trocken zu bleiben. Es gibt noch ein Familienfoto, aber ich bin zu spät und muss mich damit begnügen, die Videoübertragung anzusehen. Man kann anderen nicht endlos beim Warten zusehen, insbesondere dann, wenn man selbst – live! – warten kann.

Sichere mir einen Platz in dem Raum, in dem Putin eine Pressekonferenz abhalten wird. Warte. Als er hereinkommt, sind alle bereit, und auch durch welche Tür er seinen großen Auftritt hat, ist nicht überraschend. Trotzdem versaue ich irgendwie das Framing (#16), als der große Moment kommt. Versuche, nicht zu viele Bilder für Putin zu verschwenden. Wer kann Fotos von einer Pressekonferenz wollen, wenn so viel anderes geboten wird?

Alles ist sehr aufregend (#17), und ich wünschte, ich könnte bleiben, aber ich habe definitiv genug für einen Artikel. Ich muss meinen Zug bekommen und, nein, ich habe es nicht vergessen: Meine Schwiegermutter wartet. Mache eine letzte verregnete Fahrt im »Meteor«, nehme einen »Marshroutka«-Minibus zur U-Bahn und von dort ins Stadtzentrum.

aus dem amerikanischen von martin schuster