Echt irre

Für den Psychiater Borwin Bandelow ist klar, dass Superstars zuerst einen an der Waffel haben und dann zu öffentlichen Lichtgestalten werden. Nicht umgekehrt. von michael saager

Nur mal angenommen: Sie kotzen regelmäßig aus, was Sie gegessen haben; kaum eine Beziehung, die Sie führen, überdauert die Nacht, in der sie begonnen hat; Sie neigen zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen und erproben Ihre körperliche Kraft an herumstehenden Möbeln oder Ihren Nächsten (die Sie ja sowieso hassen); Sie ritzen sich regelmäßig die Unterarme auf, damit Sie überhaupt etwas fühlen; leiden unter dauernder Angst, Depressionen und Einsamkeit; und, als ob das nicht genug wäre, sind Sie narzisstisch und nehmen wahllos jede Droge, die Ihren Weg kreuzt.

Nur mal angenommen, Sie bündeln diese Verhaltenssymptome in Ihrer Person, dann sind Sie zwar noch nicht Elvis Presley, Angelina Jolie, Robbie Williams, Janis Joplin, Courtney Love, Michael Jackson oder Klaus Kinski, doch Ihre Voraussetzungen dafür, ein großer Star zu werden, könnten kaum besser sein. Was Ihnen jetzt noch fehlt, ist ein bisschen Talent – musikalisches oder schauspielerisches.

Wie? Sie halten das für großen Quatsch und respektlos-schnoddrig dahingeplaudert sowieso? Einverstanden. Am besten, Sie betrachten den Tonfall dieser Zeilen als mimetisches Sprachspiel: Nicht minder locker redet nämlich Borwin Bandelow über seine Star-Klienten und deren krankhaftes Verhalten: »Antisozialen Persönlichkeiten sollten Sie nur so weit trauen, wie Sie ein Klavier schmeißen können.«

In seinem jüngsten Buch »Celebrities. Vom schwie­rigen Glück, berühmt zu sein« spürt der Göttinger Facharzt für Neurologie und Psychiatrie dem Verhältnis von Berühmtheit und Krankheit nach. »Mit Stars«, schreibt Bandelow, »verbinden wir große Emo­tionen, Attraktivität, Charisma und Glamour. Aber immer finden wir in den Lebensgeschichten von Prominenten aus Musik, Film und Showbusiness Berichte über Sexskandale, Drogen­exzesse, Verschwendungssucht, exzentrische Verhaltensweisen, Gewalt, Depressionen und Suizide.« »Immer« also. Das klingt so fragwürdig wie andererseits einladend plakativ, kurz: nach schnell gestrickter Bestsellerei. Dass sich Bandelow auf diesem Gebiet auskennt, hat er bereits vor zwei Jahren gezeigt. Damals erschien »Das Angstbuch« und rückte mit ziemlich flotter Schreibe komplizierte Zusammenhänge ins einigermaßen triviale Licht. Dem Erfolg des Buches hat das schon deshalb nicht geschadet, weil der Leser nach der Lektüre das Gefühl haben durfte, ein kleiner Experte auf dem Gebiet alltäglicher oder schwerer Ängste zu sein.

Bandelow weiß, wie Populärwissenschaftliches geschrieben sein muss, damit es sich verkauft. Das ist nicht unbedingt ein Fehler. Man sollte es nur nicht übertreiben mit der Vereinfachung. Doch genau das tut der Autor in »Celebrities«. Auf gut 280 Seiten entwickelt er gerade mal eine übergreifende, überdies äußerst streitbare These: »Nicht nur trotz, sondern gerade wegen ihrer psychischen Störungen sind sie überragende Künstler geworden.« Alle miteinander. Bandelow dreht also, was im Grunde nicht uninteressant ist, den Zusammenhang von exzentrisch-destruktivem Starverhalten und Leben auf der Bühne um. Die landläufige Meinung geht ja so: Du wirst berühmt, doch der anhaltende Druck und die immer größere Sucht nach weiteren Erfolgen machen dich kaputt, zumindest lassen sie dich zunehmend wunderlicher werden. Das seltsame Treiben eines ­Michael Jackson auf der Neverland Ranch oder Elvis Presleys ausgeprägte Sucht nicht nur nach Süßigkeiten aller Art wären so gesehen zwei Beispiele für die fatale Wirkung von Ruhm. Der Suizid eines Kurt Cobain ohnehin.

Die Krankheit, die Bandelow bei fast allen im Buch auftretenden Stars aus weiter Ferne diagnostiziert hat, ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung (einige der Symptome: siehe oben). Zweifellos handelt es sich hierbei um eine ernst zu nehmende Erkrankung, an der nicht nur die Patienten, sondern auch ihr engeres soziales Umfeld und nicht zuletzt die behandelnden Ärzte und Therapeuten wenig Freude haben: »Oh, prima, unsere Arbeit fing gerade an, langweilig zu werden«, beschreibt Bandelow flapsig die sarkastische Reaktion des Pflegepersonals angesichts eines Neuzugangs. Borderliner gelten als hochgradig manipulativ, streitsüchtig, widersprüchlich und uneinsichtig. Und Bandelow, der den schwierigen therapeutischen Umgang mit Borderlinern aus eigener Erfahrung an der Uniklinik Göttingen allzu gut kennt, weiß durchaus, wovon er spricht.

So sind auch insbesondere jene Passagen in seinem Buch am überzeugendsten, in denen Bandelow die Stars Stars sein lässt und sich mit der Krankheit im engeren Sinne befasst – wenn er von andauernden Wechselbädern der Gefühle bei Borderlinern schreibt oder ihrem Hang zur kindlichen Regression. Oder von halluzinatorischen Empfindungen wie der Depersonalisation.

Bandelow diskutiert in diesen Kapiteln, durchaus kritisch und auf der Höhe gegenwärtiger wissenschaftlicher Erkenntnisse, die Entstehungsgründe der Krankheit. Von frühkindlichem sexuellen Missbrauch oder erzieherischer Vernachlässigung ist die Rede. Aber auch vom schwer zu belegenden Einfluss der Gene und neurobiologischen Fehlfunktionen: Die körpereigene Endorphinproduktion scheint bei vielen Borderlinern defekt, weshalb sie sich andauernd in einem Stimmungstief befinden. Selbstverletzungen und vor allem der Konsum von Drogen dienen bei Borderlinern anscheinend auch der künstlichen Ankurbelung ihrer notorisch schlappen Endorphinproduktion.

Streitbar nun ist Bandelows Weil-kaputt-deshalb-ein-Star-These aus verschiedenen Gründen. Zum einen, weil ihr Fundament auf Sand gebaut ist: Psychiatrische Fernan­am­nesen über selbstzerstörerische Lebenstrips eines Jim Morrison oder einer Billie Holiday taugen wenig. Ohne vertiefende Gespräche keine gescheiten Diagnosen. Erst recht wenn die diagnostischen Aussagen ausschließlich auf eher reißerischem Quellenmaterial wie Zeitungsartikeln oder (unautorisierten) Biografien fußen. Bandelow übersieht die Übertreibungsfunktion solcher Quellen nur zu gerne.

Darüber hinaus mag es zwar sein, dass Robbie Williams, Marilyn Monroe und Jimi Hendrix allesamt eine miese Kindheit hatten, doch daraus und aus ihrem exzentrisch-destruktiven Verhalten stets auf das Borderline-Syndrom zu schließen, scheint doch sehr vereinfachend. Fast schon fantasielos. Was würden andere Psychiater wohl dazu sagen?

Selbst wenn Bandelow mit seinen Ferndiagnosen annähernd Recht hätte, wäre damit doch überhaupt nichts gewonnen. Das Zusammenraffen von Biografien »kranker« Stars allein taugt nicht zu einer Beweisführung, die ein »Immer« (siehe oben) im Schilde führt. Bandelow hätte erstens auch nach »gesunden« Berühmtheiten Ausschau halten müssen und, zweitens, hätte er keine finden dürfen. Er hat es gelassen, weil er sonst festgestellt hätte, was er vorher schon wusste: dass viele von ihnen ein unspektakuläres, zufriedenes oder gar glückliches Leben führen. Ganz ohne Borderline oder andere schwer wiegende Persönlichkeitsstörungen. Abgesehen von den handelsüblichen Eitelkeitsmacken – aber die hat auch jeder zweite erfolgreiche Arzt.

Vielleicht ist es ja gar nicht so schwierig, berühmt zu sein. Jedenfalls nicht schwieriger, als ein ganz normales Leben zu führen. Für die steile These des Buches, Borderline-Persönlichkeitsstörungen seien ursächlich verantwortlich für Ruhm, bedeuten solche Annahmen jedenfalls nicht Gutes. Womit nicht gesagt sein soll, dass etwa früh erlittene Traumata keine adäquaten Stimulantia für künstlerisches Schaffen sein können. Doch sind sie eben nicht alles. Zum Glück! Und schon gar nicht ist das ach so wilde öffentliche Leben vieler Superstars ohne die Funktionen und Erwartungen jener kulturellen Institutionen zu verstehen, innerhalb derer sich die Celebrities tag­ein tagaus bewegen. Robbie Williams weiß nur zu gut, dass der Pop-Markt, in dem er so geschickt den sexy-verrückten Zampano gibt, genau das von ihm fordert: exzentrisches Verhalten bis dorthinaus. Schwierige Kindheit hin, schwierige Kindheit her. Bandelows Buch ist nicht nur arg wacklig in seiner Thesenführung, sondern auch zutiefst psychologistisch. Aber gut weglesen lässt es sich schon.

Borwin Bandelow: Celebrities. Vom schwierigen Glück, berühmt zu sein. Rowohlt 2006, 288 Seiten, 16,90 Euro