Trinken, kicken, demonstrieren

Jedes Jahr trifft sich in Italien die linke Szene zu einem internationalen Fußballturnier. Auf der Mondiali Antirazzisti geht es kaum um Politik, sondern vor allem um Fußball. Zum Glück. von david jünger

Italien hat die Fußballweltmeisterschaft nach Hause geholt. Während sich Deutsch­land noch im Wechselbad der Gefühle zwischen nationalem Freudentaumel und kollektiver Enttäuschung über Klinsmanns feigen Abgang befand, machten sich einige wackere Gestalten auf nach Italien, um den Pott dort wieder abzuholen, wo er wegen einer hinterhältigen italienischen Intrige gegen unseren Superstar Torsten Frings unrechtmäßig gelandet war. Nur wenige Tage nach dem deutschen Freudenfest sollte in Italien zum zehnten Mal die Mondiali Antirazzisti stattfinden, die antirassistische Fußballweltmeisterschaft. Alljährlich treffen sich hier Teams aus ganz Europa und einigen anderen Gegenden der Welt, um einen fußballerisch-kulturellen Kontrapunkt zum nationalen Konsumspektakel der offiziellen Weltmeisterschaft zu setzen.

Bereits die Anreise lässt erahnen, dass an der hierzulande allerorten zu vernehmenden Behauptung, dass das Bekenntnis zur deutschen Fahne und zur deutschen Nation Deutschland in die europäische Normalität zurückgeholt habe, irgendwas faul sein muss. Trotz gewonnener Weltmeisterschaft sind in Italien italienische Fahnen eine Seltenheit und Flaggen an Autos gleich gar nicht auszumachen. Von nationalem Taumel, wie er einem noch wenige Tage zuvor in Deutschland entgegenschlug, ist hier nichts mehr zu spüren.

Der Austragungsort der zehnten Mondiali Antirazzisti ist das kleine Örtchen Montecchio, nahe Parma und Bologna, einer Region, die die letzte kommunistische Hochburg in Italien darstellt. Hier regieren noch kommunistische Bürgermeister, politische Autoritäten sind Funktionäre der Rifondazione Comunista, hier setzt man sich seit Jahren dafür ein, dass die Mondiali als antirassistische Sportveranstaltung in der Region verbleibt, und auf Polizeirevieren findet man auch schon mal die Fahne der Sowjetunion. Dass die antirassistische Weltmeisterschaft hier stattfindet, scheint also durchaus angemessen.

Bereits die Ankunft lässt das multikulturelle Herz höher schlagen. In einem riesigen Park werden schon Tage vor dem offiziellen Beginn die Zelte aufgeschlagen. Die jeweiligen Fan- bzw. Politgruppen stecken ihr Terrain vorsorglich mit Fahnen und Transparenten ab, auf denen die politische Richtung vorgegeben wird: »Ultras Marseille«, »Die Vernichtung der Wurzeln des Faschismus ist unser Ziel«, »Liberta’ per gli Ultras«, »Siamo tutti clandestini«. Die Teilnehmer beziehen ihre Lager, aus denen in den nächsten Tagen laute Fangesänge schallen sollen. Italienisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Hebräisch – alle möglichen Sprachen schwirren durch den Park.

Und endlich kann man mal wieder diejenigen begrüßen, denen man im vergangenen Jahr nicht mehr Tschüss sagen konnte, weil einem Alkohol und Fangesänge die Stimme ruiniert hatten, oder diejenigen, die man neulich beim Auswärtsspiel von St. Pauli getroffen hatte oder auf der letzten Demonstration.

Jenseits irgendwelcher Imagegründe und Verkaufsstrategien versteht sich die Mondiali Antirazzisti tatsächlich als multikulturelles Fest. In fünf Tagen trafen sich hier dieses Jahr 204 Teams aus 27 verschiedenen Ländern. »Bahtalo rom« aus Chisinau (Moldawien) ist genauso hier vertreten wie »Neve Shalom / Wahat al Salam« aus Jerusalem / Tel Aviv oder »Texas Anti-Border Patrol« aus den USA. Begonnen hatte das Turnier vor zehn Jahren mit acht Teams in dem kleinen Ort Montefiorine. Mitt­lerweile ist daraus eine Veranstaltung erwachsen, bei der sich Jahr für Jahr rund 5 000 Menschen treffen.

Verbindendes Element ist dabei der Antirassismus der Teilnehmenden, mit allen Facetten, die dieses Bekenntnis heutzutage mit sich bringt. Eine alljährliche Demonstration gegen Rassismus und die Festung Europa, Solidaritätsbekundungen für alle möglichen nationalen Befreiungsbewegungen, die die Welt hervorgebracht hat, ebenso wie Angriffe auf den als antideutsch und israelsolidarisch wahrgenommenen Verein »Roter Stern Leipzig« vor zwei Jahren stellen unter anderem das Repertoire des demonstrierten Antirassismus dar.

Und doch wäre es unfair, die Mondiali Antirazzisti als Vorzeigeprojekt des antiimperialistischen, antizionistischen Antirassismus zu bezeichnen. Den Veranstaltern geht es vor allem darum, eine Alternative zum leistungsorientierten, von Männern dominierten und nationalistischen Fußball zu bieten. Die Übergriffe zweier Teams aus Kopenhagen und Hannover auf Teilnehmende aus Leipzig im Jahre 2004 wurden mit dem Ausschluss und einer Sperre der Teams sanktioniert. Gefördert werden sollen vor allem eine antirassistische, antifaschistische Fankultur, der Austausch zwischen solchen europäischen Initiativen und die Wahrnehmung einer antirassistischen Stimme in der »Festung Europa«.

Die meisten Teams kommen traditionell aus Italien und Deutschland. Besonders stark vertreten sind daneben Teams aus Großbritannien, Frankreich, Österreich, der Schweiz und Spanien. Während die Teams aus Italien, Frankreich oder Spanien zumeist Ultra-Gruppen sind, sind die deutschen Teams nicht selten Gruppen, die man aus der Demo-Vorbereitung oder Politgruppen kennt. Es ist aus deutscher Perspektive wohl kaum vermessen, die Mondiali Antirazzisti als Fortführung der bundesweiten antifaschistischen Organisierung AA / BO mit anderen Mitteln zu bezeichnen.

Im Zentrum des Geschehens steht jedoch, Antirassismus hin oder her, der Fußball. Alle Versuche, der Fixierung auf den Fußball etwas entgegenzusetzen, sind zum Glück gescheitert. Seien es das Basketball-Turnier, der völlig deplaziert wirkende Box-Contest oder das Tischkicker-Turnier: Sie alle sind nichts weiter als Beiwerk des großen Fußballturniers. Gespielt wird auf 16 Kleinfeldern im Gruppenmodus, der schließlich in die K. O.-Runde übergeht.

Die Spreu vom Weizen trennt sich bei den Vormittagsspielen. Hier katapultieren sich diejenigen in die Finalrunde, die das Turnier den allabendlichen Partys vorziehen. Während das eine Team, bestehend aus jungen robusten Männern in einheitlichen Trikots, sich bereits seit neun Uhr warm schießt, kriechen die Mitglieder des zweiten Teams pünktlich zur Anstoßzeit um 9.30 Uhr aus ihren Zelten, um festzustellen, dass nicht einmal Zeit für ein Reparierbier bleibt. Folgerichtig werden die Frauen und Männer mit uneinheitlicher Kleidung und Haarfrisur, die sich noch im Schwebezustand zwischen Delirium und Tiefschlafphase befinden, von ihren Gegnern fachgerecht auseinandergenommen, bevor sie sich wieder ins Zelt verkriechen können, in dem es allerdings mittlerweile viel zu warm ist, um noch einmal ein Auge zumachen zu können. Die etwas clevereren Teams lassen die Vormittagstermine einfach verstreichen und konzentrieren sich auf das Kerngeschäft am Nachmittag. Hier lässt sich im Grunde aber auch nichts gewinnen, wenn man nicht den nötigen Ehrgeiz aufbringt. In den Partien, die aus zwei Halbzeiten von je zwölf Minuten bestehen, gibt es keine Schiedsrichter, so dass sich am Ende immer die durch­setzen, die für einen Einwurf ihr ganzes verbales Repertoire einsetzen.

Und dennoch hat sich die Atmosphäre in den letzten Jahren deutlich entspannt. Während es sich in den Anfangsjahren fast ausschließlich um ein Männerturnier handelte, bestehen heute fast drei Viertel der Teams aus Männern und Frauen. Mit der »Antifabrigade Berzig« aus Berlin / Leipzig hat dieses Jahr sogar ein Team, das konsequent bis zum Schluss mit Frauen und Männern spielte, den dritten Platz belegt.

Dem Umstand, dass die Spiele gegen Ende des Turniers immer härter wurden, entgegneten die Organisatoren mit der Regelung, dass seit einigen Jahren die Halbfinal- und Finalpartien nicht mehr ausgespielt, sondern nur noch im Siebenmeterschießen entschieden werden. Ebenso wurde der Schiedsrichter abgeschafft, um die gegenseitige Rücksichtnahme und Kommunikation zu fördern. Und um den Frauenanteil am Turnier zu fördern, wird seit einigen Jahren ein Frauenturnier ausgerichtet, das sich aufgrund seiner Überschaubarkeit (etwa zehn Teams) größerer Beliebtheit bei den Zuschauern erfreut als das Hauptturnier. Überhaupt werden zu wahren Meistern der Herzen solche Teams wie »Gießen Asozial« und »Antifa Berlin«, die vor zwei Jahren das Siebenmeterschießen mit Krücken ausführten, weil ein Gießener Spieler auf diese angewiesen war und so das Gleichgewicht wieder hergestellt wurde.

Da es sich jedoch betontermaßen um ein antirassistisches Turnier handelt, sind die Veranstalter darum bemüht, das auf Alkoholgenuss und Fußball konzentrierte Fest zu politisieren. Im Zentrum steht alljährlich eine große Demonstration aller Teilnehmenden durch den Ort Montecchio. Bei der alljährlichen Siegerehrung werden die Gewinner nur mit einem Pokal von vielen bedacht. Neben verschiedenen Pokalen für das Team mit dem weitesten Anfahrtsweg, für das mit der besten Fan-Unterstützung oder dem Fair-Play-Pokal ist der wichtigste und größte der »Coppa Mondiali Antirazzisti«, den diejenige Gruppe bekommt, die sich während des ganzen Jahres für Antifaschismus und Antirassismus in oder außerhalb von Stadien engagiert.

Von ähnlicher Bedeutung ist der alljährlich vergebene »Coppa Invisibili«, den Mannschaften erhalten, die an dem Turnier nicht teilnehmen können. So wird immer wieder Teams, die bei der Mondiali mitmachen wollen, die Einreise aus außereuropäischen Staaten verweigert. In diesem Jahr ging der Pokal an die 27 Teilnehmer einer antifaschistischen Demonstration im März dieses Jahres in Mailand, die seitdem im Gefängnis sitzen. Ihnen droht die Verurteilung zu langen Haftstrafen, obwohl ihnen keine konkreten Straftaten nachgewiesen werden können. Auf einer Pressekonferenz und in der Pressearbeit versuchen die Veranstalter, unterstützt von der Rifondazione Comunista, die Solidarität mit den Mailänder Demonstranten als Hauptinteresse der Mondiali darzustellen.

Der Rest der politischen Bekenntnisse liegt durchaus im Bereich des Erwartbaren. Die Devotionalienstraße, auf der die teilnehmenden Gruppen ihre politischen Botschaften auf T-Shirts, mit Büchern oder mit Zeitschriften darbieten, hat von allen Themen etwas parat: Tierrechte, Freiheit für Kurdistan, Baskenland, Katalonien oder Palästina. Auch die wenigen Veranstaltungen bewegen sich auf diesem Niveau. Man erfährt über den Krieg im Irak genauso etwas wie über die weltweite Anti-Coca-Cola-Kampagne. Fester Bestandteil seit Jahren ist auch das Gespräch mit alten italienischen Partisanen, die über ihre Erfahrungen im Kampf gegen Deutschland berichten. Aus aktuellem Anlass gesellen sich Veranstaltungen zur Zukunft des italienischen Fußballs oder zum Verhältnis der Ultra-Szene zum Hooliganismus hinzu.

Auffällig bei all dem ist jedoch, dass kaum eine Gruppe bemüht ist, die Mondiali zu einer politischen Propagandashow zu instrumentalisieren. Weder ergeht man sich im kollektiven Antiamerikanismus, noch spielt der Konflikt zwischen Israel und Palästina eine herausragende Rolle. Von zwei bis drei Palästina-Fahnen und ebenso vielen T-Shirts abgesehen, findet der Konflikt bei der Mondiali praktisch nicht statt.

Der heimliche Höhepunkt ist jedoch der allabendliche Gesangscontest im riesigen Festzelt. Hier werden die wahren Meister ermittelt. Häufig als »Testosteron-Bude« verunglimpft, treffen sich hier jeden Abend die verschiedenen Fangruppen und liefern sich Gesangsduelle. Während die Deutschen, mal abgesehen von den Ultras St. Pauli, wegen textlicher und musikalischer Einfachheit an den Rand gedrängt werden, zelebrieren vor allem die Italiener und teilweise auch die Franzosen ein Feuerwerk an Fangesängen. Gemeinsamkeit stellt sich nur her, wenn das ganze Zelt »Berlusconi Pezzo di Merda« oder »Common – Antifa-Hooligans« grölt.

Zwar ist der Ausdruck »Testosteron-Bude« ab spätestens vier Uhr durchaus berechtigt, aber bis dahin ist hier wahre Begeisterung zu verspüren. Einen Teilerfolg konnten die Deutschen in diesem Jahr mit »Scheiß-Polizei«-Gesängen verbuchen, die am Ende der Mondiali von beinahe allen Beteiligten in steter Eintracht zelebriert wurden. Die nicht ganz unberechtigte Hoffnung besteht, dass man beim nächsten Champions-League-Spiel mit italienischer Beteiligung aus dem Fernseher ein »Scheiß Polizei«, gesungen von den italienischen Tifosi, vernehmen kann.

Um das Urlaubsgefühl zu vervollständigen, finden jeden Abend große Konzerte in der dafür bestens geeigneten Arena statt. Genau so stellt sich der unbedarfte Deutsche das alte Rom und italienische Stimmung vor. Im Halbrund der Arena tummeln sich tausende Zuschauer, die bei Bengalfeuer und mit diversen Fahnen der Musik folgen oder eigene Gesänge anstimmen.

Man fühlt sich wohl bei der Mondiali Antirazzisti, das ist wohl das einfache Resümee, das man nach fünf Tagen Fußball, Demonstrationen, italienischem Kaffee, Fangesängen und Alkohol ziehen kann. Man hat sich gemein gemacht mit der »Wohlfühllinken«, die man während dem Rest des Jahres vielleicht eher belächelt oder kritisiert. An einige Unpässlichkeiten kann man sich gewöhnen, etwa daran, dass der tägliche Schlaf nach wenigen Stunden beendet ist, weil jemand genau neben dein Zelt kotzt, um danach in Verkennung des Heimweges genau in dieses zu fallen, oder wenn jemand früh um Sieben mit »Scheiß-Polizei«-Gesängen über den Zeltplatz torkelt oder die Morgensonne spätestens um zehn Uhr aus deinem Zelt eine Sauna macht.

Dafür genießt man die Hitze, den Alkohol, das Fußballturnier und lässt immer mal wieder fachkundig das »Dolce Vita« hochleben. Dass man in den fünf Tagen auch nicht mehr als höchstens fünf Polizisten sieht, vervollständigt das gute Gefühl. Wenn man Glück hatte, hat man sein Italienisch, Spanisch oder Englisch verbessert, und wenn man noch mehr Glück hatte, hat man sich weder die Bänder gerissen noch den Fuß gebrochen, noch die Stimme weggegrölt. Nach fünf Tagen Mondiali Antirazzisti ist nahezu allen Beteiligten klar: Nächstes Jahr kommen wir wieder.