Sommer, Baumhaus, Tod

Kevin Vennemanns Debütroman »Nahe Jedenew« handelt von einem Pogrom und umkreist das Ende allen Erzählens. von jan süselbeck

Selbst das Vergangene sei »nicht mehr sicher vor der Gegenwart, die es nochmals dem Vergessen weiht, indem sie es erinnert«, lautet eine paradox anmutende Formulierung Theodor W.  Adornos. Gemeint ist das Dilemma, dass man die Shoah in dem Moment zu verharmlosen beginnt, in dem man versucht, sie realistisch nach­zuerzählen. Texte, die diese »Grenze des Darstellba­ren« überschreiten wollen, müssen dieses Problem reflektieren. Ein solches Bewusstsein muss zumindest Ausgangspunkt der formalen Gestaltung sein, sollen die Texte nicht zu bloßem Kitsch verkommen.

Dass die literarische Vergegenwärtigung der ­Shoah alles Erzählen fragwürdig werden lässt, war offensichtlich auch dem 1977 geborenen Literaturwissenschaftler und Judaisten Kevin Vennemann beim Verfassen seines durchweg im Präsens gehaltenen Debüt­romans »Nahe Jedenew« klar. »Wir denken uns Geschichten aus, alles, was bei uns nahe Jedenew passiert, ist eine Geschichte, und wenn nichts passiert, denken wir uns etwas aus«, heißt es an einer Stelle seines Buchs – fast so, als sei das furcht­bare Geschehen, von dem hier aus der Perspektive uneindeutig bleibender Figuren die Rede ist, nur ein erfundener Spaß.

Aber es ist etwas Unbeschreibliches passiert. Das traumatische Erlebnis eines Pogroms wirkt wie ein immer wieder erinnerter Schock, der die Zeilen des schmalen Werks durchdringt. Manchmal wird dem Leser sogar innerhalb eines Satzes durch logische Brüche im Erzählen das plötzliche Ende einer ge­borgenen Kindheit vor Augen geführt.

In einem polnischen Dorf nahe Jedenew spielen Anna, Marian und ihre Freunde Vater-Mutter-Kind, sie bauen sich ein Baumhaus, ein Versteck gegen lauernde Gefahren. So geht das Sommer für Sommer. Dann beginnt der Zweite Weltkrieg. Die Deutschen sind in Polen einmarschiert, die Russen sind abgezogen, und die bäuerlichen Nachbarn in der »südlitau­ischen Heide« sind mit ihrem jäh entfesselten Antisemitismus ­gekommen, um alle Juden nahe J­edenew umzubringen. Aus einem Baumhaus sprechen Kinderstimmen zu uns. Was eben noch ein seliger Abenteuerspielplatz war, dient ihnen jetzt als notdürftiges Versteck, in dem sie sich nicht einmal mehr trauen zu atmen, aus Angst, von ihren Verfolgern entdeckt zu werden.

Dieses Entsetzen bildet einen scharfen Kontrast zu den kindlichen Märchenerzählungen: »Hier im Baum­haus wissen wir von keiner einzigen der vielen Geschichten, die wir uns im Baumhaus erzählen, während Wasznars und Antoninas Hof verbrennt, weil diese Geschichten tatsächlich passieren, oder weil wir sie uns nur ausdenken, uns als unsere Geschichten verkaufen, weil wir uns für Augenblicke nicht erinnern können an das, was wirklich passiert, welche Geschichte wahr ist und welche falsch, wir beschließen, dass uns das egal ist«, heißt es an einer Stelle.

Die Erzählung, die der jüdische Vater einst zur Be­lustigung seiner Kinder aus einem Buch geklaut hatte, um sie als sein eigenes Erlebnis auszugeben, wirkt am Ende fast realer als das tatsächlich Erlebte, als das Grauen, die plötzliche Auslöschung der eigenen Familie mitansehen zu müssen. Die Kinder beschließen, »dass diese Geschichte, die er sich als seine entwirft und zusammenstiehlt, nun für uns seine Geschichte ist, wie auch alles andere um uns herum nur eine Geschichte ist, die ebensogut erfunden sein kann wie die des Vaters«. Allerdings eine, die sie »immer erinnern und ein letztes Mal wieder erinnern müssen«, die man sich am Ende »über die Grenzen Jedenews hinaus weitererzählt und schließlich aufschreibt und druckt, damit sie eine echte Geschichte wird«.

Das Diffuse der Geschichten und Er­innerungen scheint die Unfähigkeit der Opfer abzubilden, das zu versprachlichen, was ihnen tatsächlich widerfährt. Der Leser entwickelt eine intensive Empathie für die Opfer; man beginnt, sich die Gräuel auszumalen, die im Roman höchstens vage angedeutet werden. »Marian sagt: legt euch hin, ich will euch vom Bussardschießen erzählen, und drüben, an der Bresche, die wir ins Feld hineinschlagen im Mai, beginnt die kleine Julia zu schreien, als die Jedenewer Bauern und der Kradejewer Tierarzt singend, grölend, spielend zu neunzehnt an ihr ziehen«, lautet einer der typischen Sätze.

Es gibt ein Stimmengewirr und ein allmähliches Verstummen der Verfolgten, am Ende angekündigt mit zwei Worten, die für den schieren Horror stehen: »Wir hören die neuesten Nachrichten vom Einmarsch, wir hören die Nachrichten und die hohe, aufgeregte Stimme des Sprechers auf dem einen Sender, die dunkle, scheinbar gelassene Stimme eines anderen auf einem anderen Sender, hören bis weit in den Abend, immer stiller, am Ende schweigend, die neuesten Nachrichten, sehen schließlich die Jedenewer Bauern sich auf dem Feld versammeln. An diesem Abend, am letzten Abend, ist es Antonina, die leise sagt: Sie kommen.« Es ist der Schlüsselsatz dieses quälenden Romans, und er wird gegen Ende in geringer werdenden Abständen wiederholt. Der Roman steuert mit der beklemmenden Bemerkung »Ich atme nicht« auf ein grausam offenes Ende zu.

Weitgehend unbeachtet erschien Vennemanns Roman zur Frankfurter Buchmesse im vergangenen Jahr bei Suhrkamp. Erst in diesem Jahr wurde das Feuilleton auf den Text aufmerksam und entdeckte in der abstrakten Prosa »ein kleines literarisches Wunder« (NZZ), ja ein »großes literarisches Versprechen« (SZ). Da der Text vom eliminatorischen Antisemitismus handelt, war man sich allerdings nicht ganz im Klaren darüber, wie man diese Themenwahl bei einem so jungen Autor einordnen sollte.

»Es ist auch ein Buch, das glatt ist und geschickt und einen Blick öffnet auf eine Generation, für die sich mit dem Thema deutsche Schuld keine Versteifungen, aber womöglich auch wenig Verpflichtungen verbinden«, mutmaßte Georg Diez in der Zeit. »Und vielleicht ist sein Buch weniger Auseinandersetzung mit der Schuld der Vergangenheit als ein meisterliches literarisches Exerzitium«, schrieb Andrea Neuhaus in der FAZ.

Lobeshymnen dieser Art könnten einen fast schon dazu verleiten, dem Autor die Manieriertheit seines Buchs zur Last zu legen. Ist es wirklich eine gute Idee, die sommerliche Kinheitsidylle mit dem Grauen der Judenvernichtung zusammenzubringen? Wird in der kunstvollen Erzählung die Shoah zum bloßen Hintergrund geschmäcklerischer und ästhetischer Effekthaschereien?

Nein. Es ist verfehlt, Vennemanns Erinnerungsroman als eine kaltschnäuzige Poetisierung der Judenvernichtung zu lesen, als unver­krampftes Dokument eines jungen deutschen Erzählens vom Holocaust. Gerade seine konsequent verwendete Schuss-Gegenschusstechnik erzeugt beim Leser womöglich mehr unbe­queme Assoziationen, als es noch so drastische Beschreibungen von Massenerschießungen und Leichenbergen jemals vermöchten.

Damit ist diesem leisen Text die Erinnerung an die deutsche Schuld implizit, ohne dass sie je ausgesprochen werden müsste. Kevin Ven­ne­mann zerstört Geschichten, um zu vergegenwärtigen, was vom Vergessen bedroht ist. »Nahe Jedenew« ist ein Buch, das im Gedächtnis bleiben wird. Endlich.

Kevin Vennemann: Nahe Jedenew. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005, 143 Seiten, 8 Euro