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Die jüngsten Entführungen im Gaza-Streifen deuten eine Islamisierung des palästinensischen Terrors an. Die umstrittene israelische Militäroffensive soll ausgeweitet werden. von michael borgstede, tel aviv

Sogar der Anführer der Hamas in Damaskus, Khalid Meshal, hat sich für einen Waffenstillstand in Gaza und die Freilassung des entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit eingesetzt. Inzwischen zeigen sich die Palästinenser zumindest theoretisch dazu bereit, den Beschuss von israelischem Gebiet mit Kassam-Raketen einzustellen, als Gegenleistung für einen israelischen Rückzug.

Doch Israel hat andere Pläne: Die Militäroffensive im Gaza-Streifen werde ausgeweitet und könne noch mehrere Monate dauern, war am vergangenen Wochenende aus Armeekreisen zu hören. Während die politische Rechte angesichts dieser Aussicht fast jubilierend kundtut, man habe es ja schon immer besser gewusst und sei deshalb gegen den Rückzug aus dem Gaza-Streifen gewesen, erinnern sich in der Linken viele an den Beginn des Krieges im Libanon in den frühen achtziger Jahren. Auch damals geriet eine überschaubar geplante Kurzoffensive rasch zu einem nationalen Albtraum. »In einem halben Jahr werden wir vergessen haben, weshalb wir je wieder nach Gaza eingedrungen sind«, warnt der ehemalige Abgeordnete der linken Partei Meretz Yossi Sarid in der Tageszeitung Ha’aretz.

Israel befindet sich in einem Dilemma. Selbstverständlich ist der Beschuss seines Staatsgebiets mit Raketen aus dem nicht mehr besetzten Gaza-Streifen nicht zu tolerieren. Andererseits weiß man auch in Jerusalem, dass ein Ende des Beschusses selbst mit einer erneuten Besetzung des nördlichen Gaza-Streifens kaum zu erreichen sein wird.

Bei den Palästinensern ist die Situation ähnlich kompliziert. Die Differenzen zwischen der Hamas-Regierung, der radikaleren Exilführung und den terroristischen Milizen sind keineswegs beigelegt, vielmehr hat die israelische Militäraktion die verschiedenen Fraktionen einmal mehr zur Einheit gezwungen. Wer in der Hamas wirklich die Führung innehat, ist nach wie vor unklar. Ungewöhnlich war allerdings, dass der israelische Soldat sich am Wochenende noch immer am Leben befand. Nach über 40 toten Palästinensern, unter ihnen auch Zivilisten, sollte man annehmen, die Entführer hätten ihr Opfer längst hingerichtet. Stattdessen forderte Ministerpräsident Ismail Hanija, den Soldaten nicht zu töten und ihn gut zu behandeln. Die Entführer selbst äußerten sich auf einer Pressekonferenz ähnlich: Der Islam verbiete es, Gefangene zu töten.

Hinter diesen Äußerungen steht auch die Angst vor israelischen Vergeltungsschlägen stehen, zugleich deuten sie auch auf etwas anderes hin: Palästina ist nicht der Irak. Noch funktioniert der islamistische Terror gegen Israel anders als im Irak. Das ist die gute Nachricht. Beunruhigend hingegen ist eine fortschreitende Islamisierung des palästinensischen Terrorismus.

So drohte ein Sprecher des Palästinensischen Widerstandskomitees vor zwei Wochen im Fernsehsender al-Jazeera mit der Ermordung des ebenfalls entführten jungen Siedlers Elijahu Asheri. Sollte Israel die Mi­litäraktion nicht sofort abbrechen, werde man Asheri »vor laufenden Fernsehkameras abschlachten«, las ein eher schüchtern auftretender junger Mann von einem Blatt. Die Formulierung hatte er sich offensichtlich von im Irak agierenden Jihadisten abgeschaut, die dort in den vergangenen Jahren wiederholt mit Enthauptungen für Schrecken sorgten.

Einen Tag später wurde die Leiche des jungen Israeli auf einem Feld bei Ramallah gefunden. Ascheri war mit einem Kopfschuss, nicht mit einem Schlachtermesser ermordet worden. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet das Widerstandskomitee sich zumindest rhetorisch auf die irakischen Terrorgruppen bezieht. Es wurde im September 2000 von Jamal Abu Samhadana gegründet, der am 8. Juni bei einem israelischen Luftangriff ums Leben kam. Die Gruppe hat zahlreiche Anschläge verübt, darunter auch den auf einen amerikanischen Militärkonvoi in Gaza am 15. Oktober 2003, bei dem drei Amerikaner starben. Keine andere palästinensische Gruppierung hatte es zuvor gewagt, den einflussreichsten Vermittler im Nahen Osten direkt anzugreifen.

Kurz vor seiner Ermordung gab Samhadana in einem Interview zu: »Wir freuen uns immer, wenn irgendwo in der Welt ein amerikanischer Soldat getötet wird.« Die Amerikaner müssten einen »hohen Preis zahlen für ihre aggressive und kriminelle Politik gegen die arabische und muslimische Welt«. In das traditionelle Bild eines palästinensischen »Befreiungskämpfers« passen solche Äußerungen nicht. Vielmehr scheint Samhadanas Denken von den Ideen eines internationalen Jihad bestimmt. Bei seiner Beerdigung am 9. Juni waren auch Poster mit dem Portrait Abu Musab al-Zarqawis zu sehen.

Für die Entführung und Ermordung Asheris war das Widerstandskomitee wohl allein verantwortlich, bei der Entführung des Soldaten im Gaza-Streifen handelt es sich hingegen um eine Zusammenarbeit mit den Izzedine-al-Qassam-Brigaden der Hamas und einer neuen, bisher unbekannten Gruppe namens Islamische Armee. Einer der bei dem Anschlag ums Leben gekommenen Kämpfer dieser Armee ist auf einem zuvor gedrehten Video zu sehen. Vor einer riesigen schwarzen Fahne mit einem Schwert und der Aufschrift »Islamische Armee« schwört Mohammed Farawana, die »Ungläubigen zu bekämpfen«. Im Hintergrund läuft ein altes Video von Ussama bin Laden.

Auch ein in diesen Tagen in Gaza verbreitetes Flugblatt legt den Verdacht nahe, die »Armee« habe weiterreichende Ziele als das Ende der israelischen Besatzung. »Unseren Jihad führen wir nicht um Land, Grenzen oder Nationalismus«, schreiben die Autoren. Es gehe der Islamischen Armee vielmehr »ausschließlich um die Religion«. Bereits im März hatte die Armee erstmals in einem Pamphlet auf sich aufmerksam gemacht und die Ankunft eines Führers wie bin Laden und al-Zarqawi im Gaza-Streifen angekündigt.

Diese Beispiele zeugen von einer fortschreitenden Islamisierung des palästinensischen Kampfes. Ist al-Qaida im Gaza-Streifen bereits tätig? Nachdem die israelische Armee von dort abgezogen war, war die Grenze zu Ägypten für einige Tage so gut wie unbeaufsichtigt, und der israelische Geheimdienst befürchtet, Islamisten könnten vom Sinai nach Gaza gelangt sein. Anfang März bestätigte Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas diese Befürchtungen: »Wir haben Hinweise auf eine Präsenz von al-Qaida in Gaza und im Westjordanland«, sagte er der Londoner Zeitung al-Hayat.

Doch weitere Ermittlungsergebnisse blieben aus, auch zu angekündigten Verhaftungen kam es nie. Hochrangige Führer des politischen Flügels der Hamas weisen zudem darauf hin, dass es sich bei einigen Mitgliedern der neuen Armee um ehemalige Kämpfer handelt, die vom zurückhaltenden Auftreten der Hamas in der Regierung enttäuscht seien und den »Widerstand« wieder aufnehmen wollten. Manche fürchten gar, das Wanken zwischen Politik und Terrorismus könne schließlich zur Spaltung der Hamas führen.