Hamas regiert mit

Die Militäroffensive der israelischen Armee offenbart die Ratlosigkeit der Regierung. Das Kabinett um Ehud Olmert erlebt seine erste schwere Krise. von michael borgstede, tel aviv

Einer Geiselnahme steht wohl jeder Staat hilflos gegenüber. Unnachgiebigkeit und Konsequenz können den Entführten das Leben kosten, Verhandlungsbereitschaft hingegen kann den Staat auf ewig erpressbar machen. Israel, das seit über einer Woche um den nach Gaza verschleppten Soldaten Gilad Shalit bangt, ist für Entführungen besonders empfindlich. Niemals einen verwundeten oder getöteten Kameraden im Feld zurückzulassen, gehört zu den Grundfesten der Armee.

Und die Armee, das ist in Israel das Volk. Männer wie Frauen leisten zwei bis drei Jahre Militärdienst, die Möglichkeit der Verweigerung gibt es nicht. Bis zum 40. Lebensjahr bleiben Männer Reservisten, die im Notfall innerhalb weniger Tage mobilisiert werden können. Einen Monat jedes Jahr kehren sie in Uniform in ihre Kasernen zurück. Israelis bringen ihrer Armee einiges an Opfer – und die Armee dankt es ihnen mit unbedingter Loyalität.

Fast 5 000 palästinensische Häftlinge musste Israel 1983 im Tausch für sechs von der Fatah entführte Soldaten freilassen. Die Freiheit des von der Hizbollah entführten Zivilisten Tennenboim und die Auslieferung der Leichen von drei getöteten israelischen Soldaten kostete Israel vor zwei Jahren immerhin noch 450 Gefangene und die sterblichen Überreste von 59 Hizbollah-Kämpfern.

Für Ministerpräsident Ehud Olmert und Verteidigungsminister Amir Peretz stellt das Geiseldrama die erste große Krise ihrer noch jungen Regierungszeit dar. So richtig falsch gemacht haben sie dabei eigentlich nichts. Leider ist das auch schon der freundlichste Kommentar, mit dem sich ihr Krisenmanagement beurteilen lässt. Sie haben diplomatischen Druck an allen Fronten ausgeübt, haben die einflussreichen Ägypter als Vermittler eingespannt, allen möglichen und unmöglichen Urhebern der Entführung in Gaza und Damaskus offen und verdeckt gedroht.

Die israelische Armee hat den Gaza-Streifen erst isoliert und ist dann nach Gaza einmarschiert, ohne sich jedoch auf verlustreiche Gefechte einzulassen. Hamas-Führer wurden festgenommen, Terroristen mit gezielten Tötungen hingerichtet und schließlich wurde sogar das Büro des palästinensischen Premierministers Ismail Hanija bombardiert, der der Hamas angehört. Das alles wurde den Entscheidungsträgern von den Geheimdienstchefs und der Armeeführung vorgeschlagen, erst nach eingehenden Beratungen ließen Peretz und Olmert sich darauf ein.

Nicht einmal Vergeltungssucht kann man der neuen israelischen Führung vorwerfen. Olmert reagiert bedächtiger als Sharon, er flucht nicht wütend auf »diese Araber« und verliert sich als Zivilist auch nicht in den militärischen Details wie sein Vorgänger. Den Einmarsch der Armee in den Norden Gazas ließ er zweimal auf unbestimmte Zeit verschieben, weil ihm die Pläne der Militärs zu unausgegoren schienen. Besonders aus der Stadt Beit Hanoun feuern Terrorgruppen immer wieder Kassam-Raketen auf die südisraelische Stadt Sderot ab.

Israel hatte die Bewohner der palästinensischen Stadt bereits in Flugblättern zum Verlassen ihrer Häuser aufgefordert, als die Aktion aus Angst vor Opfern unter der Zivilbevölkerung verschoben wurde. Israels Hoffnung, nach dem Abzug aus dem Gaza im vergangenen Sommer würde auch der Raketenbeschuss ein Ende finden, hat sich nicht bewahrheitet. Genauso wenig hat sich allerdings die Hoffnung bestätigt, die internationale Gemeinschaft würde Israel nach dem Abzug widerspruchslos die Abschussrampen bombardieren lassen – besonders wenn diese sich mitten in palästinensischen Wohngebieten befinden.

Es scheint einmal mehr, als habe die israelische Regierung nach 39 Jahren Besatzung gewisse strategische Grundregeln noch immer nicht gelernt. Man wolle den Druck auf die Zivilbevölkerung langsam und konstant erhöhen, damit diese schließlich ihrer Wut auf die Terroristen Luft mache und die Freilassung des Soldaten erzwänge, erläuterten verschiedene Regierungsbeamte das israelische Vorgehen in der vergangenen Woche. Die israelischen Medien zeigten sich weitsichtiger als die Regierung: Einhellig beklagten die Zeitungen, diese Taktik habe ja noch nie funktioniert.

»Die Wut der Palästinenser wird sich wieder einmal gegen uns richten, die wir ihr Elektrizitätswerk bombardiert haben, und nicht gegen die Entführer«, schrieb die Zeitung Yediot Ahronot. Auch die rechte Tageszeitung Jerusalem Post beklagte einen Mangel an strategischer Planung. Ob Israel entschieden, die palästinensische Autonomiebehörde aufzulösen und deshalb mehrere Dutzend Hamas-Parlamentarier festgenommen habe, fragt die Zeitung. Oder wolle die Regierung die hochrangigen Gefangenen doch für die Freilassung des Soldaten entlassen? Und was wollte man mit dem tiefen Flug von Kampfflugzeugen über den Palast von Syriens Präsident Assad erreichen?

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, sämtliche Aktionen der vergangenen Tage seien einer vollkommenen Hilflosigkeit entsprungen. 700 000 Palästinenser ins stromlose Dunkel zu bombardieren und drei Tage später die Stromlieferungen zu erhöhen, dass wirkt einfach nicht besonders durchdacht. Weniger als eine Woche nach der vollständigen Abriegelung des Gaza-Streifens lässt Israel nun wieder Nahrungsmittel und Medikamente durch den Warenübergang Karni.

Und dann ist da noch die umstrittene Verhaftung von 64 hochrangigen Hamas-Aktivisten, darunter acht Kabinettsminister und über zwanzig Parlamentsabgeordnete. Vom rein rechtlichen Standpunkt ist gegen die Verhaftungen eigentlich nichts zu sagen. Palästina ist kein Staat und deshalb genießen die Parlamentarier auch keine parlamentarische Immunität. Die Hamas hingegen gilt nicht nur in Israel, sondern auch in den USA und in Europa als Terrororganisation. Den Politikern der Hamas wird die »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« zur Last gelegt, ein Delikt, das in Israel mit fünf Jahren Haft bestraft werden kann.

Doch wichtiger als die formal-juristischen Umstände der Verhaftungen sind die politischen Folgen dieses weitreichenden Schrittes. Israel habe die bisher vorgenommene Trennung zwischen dem politischen und dem terroristischen Flügel der Hamas aufgehoben, informierte ein Sprecher des israelischen Justizministeriums die Presse. Dadurch sind nun die vergleichsweise gemäßigten Abgeordneten der Hamas aus dem Westjordanland im Gefängnis verschwunden, während die im Umgang weitaus schwierigere Führung in Gaza oder gar in Damaskus vorerst verschont blieb.

Längst gibt es innerhalb der Organisation deutliche Machtkämpfe und Differenzen über das weitere Vorgehen. So weigerte Achmed al-Jaabri, der Leiter der terroristischen Izzedine-al-Qassam-Brigade, sich vor einigen Wochen, einem Befehl von Premierminister Hanija Folge zu leisten, den Abschuss von Kassam-Raketen einzustellen. Und dann ist da die Auslandsführung der Organisation um Khalis Meshal in Damaskus. Der israelische Geheimdienst vermutet, Meshal sei an der Entführung von Gilad Shalit beteiligt. Meshal sieht sich als wahrer Chef der Hamas, der im Exil die reine islamistische Lehre vertreten kann, ohne mit jenen pragmatischen Zwängen in Konflikt zu geraten, die Hanija und seine Regierung in Gaza jeden Tag zu spüren bekommen.

Will Meshal seine Macht in den palästinensischen Gebieten vergrößern und eine sich möglicherweise anbahnende politische Mäßigung der Hamas verhindern? War es wirklich Zufall, dass der Überfall auf einen israelischen Grenzposten ausgerechnet kurz vor einer Einigung der Hamas und der Fatah auf das »nationale Versöhnungsdokument« der Gefangenen stattfand?

Auch wenn die Hamas in diesem Dokument noch keineswegs Israel anerkennt, so dürfte der Führung dieser erste Schritt nicht leicht gefallen sein. Immerhin wäre der sich tapfer schlagende Mahmoud Abbas nach der Unterzeichnung des Dokuments dazu befugt, Verhandlungen mit Israel über eine Lösung des Nahostkonflikts zu führen.