Die großen Spielverderber

Die Bundesregierung nutzt die WM dazu, so manche unsoziale Maßnahme und lang verschobene Reform anzugehen. Doch das Publikum schaut lieber Fußball, weil es lieber Fußball schauen will. von richard gebhardt

So langsam werden wir ungeduldig«, mahnte der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Jürgen Thumann, in der vergangenen Woche die Bundesregierung. Obwohl politische Hindernisse wie Landtagswahlen, eine große Opposition im Bundestag oder Blockaden im Bundesrat kaum existierten, gingen die notwendigen Reformen zu langsam voran. Bundeskanzlerin Angela Merkel wiederum griff auf dem Treffen des BDI mit ihrem Wort vom »Sanierungsfall Deutsch­land« auf die apokalyptische Rhetorik des vergangenen Wahlkampfes zurück, in dem die Bundesrepublik von der Union faktisch zum Entwicklungsland erklärt worden war. Doch ihr Besuch beim BDI blieb ebenso wenig beachtet wie die Verabschiedung des Haushalts für das laufende Jahr. Das vorrangige Interesse des Publikums galt eher dem nächsten Spiel der deutschen Nationalmannschaft. Während der WM scheinen die Parlamentarier eine Parallelgesellschaft zu bilden, während der Deutsche Fußballbund die Regentschaft im Land übernommen hat.

Die Welt ist zu Gast beim Exportweltmeister, und das Turnier hält für die politischen Meinungsmacher ein scheinbar unerschöpfliches Reservoir an Meldungen, Metaphern und Maskeraden bereit. Der Vorsitzende der CDU-CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, wurde in der »Adidas-Arena« vor dem Berliner Reichstag mit einem Deutschland-Tattoo auf der Wange gesichtet. Der Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Olaf Scholz, reihte den Fangesang »You’ll never walk alone« in den Kanon arbeiterbewegten Liedguts ein. Er nannte die klassische Stadionhymne ohne jede Ironie »ein sozialdemokratisches Grundsatzprogramm«.

Das bürgerliche Feuilleton freut sich über die »Normalisierung« des Landes durch einen fröhlichen Cocktailfähnchen-Nationalismus. Konservative Verteidiger des völkischen Prinzips der Blutsbande im deutschen Staats­bürgerschaftsrecht feiern den Sieg über die angeblichen »Nationalnihilisten« aus dem linksliberalen Milieu. Dieses aber hält sich zurück. Als Kritiker der nationalen Symbole waren allein die sächsische Landtagsabgeordnete Julia Bonk (Linkspartei) und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft wahrnehmbar, die allerdings ihre Broschüre mit Argumenten gegen ein »furchtbares Loblied auf die deutsche Nation« wieder zurückzog (siehe auch Seite 9).

Andere Kritiker sind nicht in Sicht. Die gescholtenen Links­liberalen wollten wie ihr Übervater Günter Grass traditionell die vaterländischen Symbole »nicht den Rechten überlassen«.

Derweil kündigt das Kabinett Merkel jenseits des Scheinwerferlichts eine »Blutgrätsche« (Spiegel-Online) gegen die Lohnabhängigen und Erwerbslosen an. »Glücklich, wer in diesen Tagen Fußballfan ist«, kommentiert die Süddeutsche Zeitung: »Er oder sie dürfen sich noch auf zwei Wochen Spiel, Spaß und gute Unterhaltung freuen. Es bleibt damit eine Gnadenfrist, um die Ungeheuerlichkeiten zu begreifen, die sich die große Koalition unter Führung von Angela Merkel gerade ausdenkt.« Bemerkenswert, dass auch die Süddeutsche Zeitung von »Ungeheuerlichkeiten« und nicht wie gewohnt von »unvermeidlichen Reformen« spricht.

Mit der Vorbereitung der Föderalismus-, Unternehmenssteuer- und Gesundheitsreform, dem Gleichbehandlungsgesetz, dem so genannten Hartz-IV-Optimierungsgesetz und der Einführung des Elterngeldes, den Einschnitten bei der Pendlerpauschale und beim Sparerfreibetrag sowie mit der bereits beschlossenen Anhebung der Mehrwertsteuer läuft der politische Betrieb auf Hochtouren. Was als »Politik des Stillstands« kritisiert wurde, erweist sich als temporeicher Regierungsmarathon mit Beschlüssen, die, anders als zur Regierungszeit Gerhard Schröders, nicht mehr vom Veto eines unionsgeführten Bundesrats aufgehalten werden können.

Gravierende Änderungen im herrschenden System des deutschen Korporatismus mussten nach der Abwahl von Rot-Grün nicht vorgenommen werden. Die gegenwärtige Politik ist eine Fortführung des informellen »Agenda-Netzwerks« unter den Bedingungen der großen Koalition, die zu Beginn der Finalspiele fast geräuschlos ihre neuen »Grausamkeiten« vorbereitet.

Der Bremer Ökonom Rudolf Hickel notiert im Neuen Deutschland dazu einen unter Linken gegenwärtig beliebten Gedanken: »Was im alten Rom zur Befriedigung der Massen ›Brot und Spiele‹ waren, ist jetzt die WM-Euphorie. Sie wird politisch missbraucht.« Und der Freitag meint zum Zusammenhang von Fußball und Politik: »Es wäre wichtig für die Koalition, diese Themen jetzt abhaken zu können, denn im Schat­ten der Fußball-WM schauen die Bürger nicht so genau hin, welche neuen Lasten ihnen aufgebürdet werden.«

Auch wenn die internationalen Funktionäre der Fifa bei der Organisation der WM wohl kaum den verschobenen Terminplan deutscher Haushaltspolitiker vor Augen hatten, ist der Zusammenhang zwischen der Euphorie für Klinsmanns Team und der kümmerlichen Reaktion auf den organisierten Sozialabbau nicht unplausibel. Doch wer das WM-Spektakel bloß für die moderne Variante des Prinzips »Brot und Spiele« hält, zeichnet ein Kitschbild der Verhältnisse, in dem die ideologisch verblendeten Sport­narren nur als Opfer von Ablenkungsmanövern der Herrschenden vorkommen.

Unbeantwortet bleibt durch den Verweis auf die Instrumentalisierung von »Party und Patriotismus« (Süddeutsche Zeitung) die zentrale Frage, warum angesichts der Dimensionen der sozialen Kürzungen selbst in der Halbzeitpause jede Form von Protest und Widerstand ausbleibt. Streiks, Montagsdemonstrationen, Studentenproteste und Arbeitskämpfe finden wöchentlich statt, bleiben aber nach kurzen Höhepunkten auf den engen Kreis der Aktivisten beschränkt.

Für weitere drastische Maßnahmen im Sozialbereich gibt es bereits Versuchsballons. Der arbeitsmarktpolitische Obmann der Unionsfraktion, Stefan Müller (CSU), konnte mit seiner Initiative für einen »Gemeinschaftsdienst für Langzeitarbeitslose« mit Meldepflicht und Überwachung, längst bekannte Forderungen zuspitzen. Doch auch sein Büro wird nicht täglich von Demonstranten aufgesucht, die sich bei dem Befürworter der Zwangsarbeit als »diensttauglich« melden.

»Das Bundeskabinett tagt«, kündigt Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die kommenden Zumutungen an. »Es wird, wenn alles vorbei ist, wie eine Fifa über das Land kommen, unerbittlich, streng, reglementierend.« Die Kontrollgesellschaft reglementiert schon jetzt. Die Personenüberprüfung vor dem Stadion, die Kameraüberwachung öffentlicher Plätze und die Erhebung von persönlichen Profilen im Rahmen der Konsumentenerfassung bei zahllosen Gewinnspielen, sind eine neuer Höhepunkt staatlicher und kommerzieller Datenspeicherung. Ökonomisch betrachtet ist die WM ein Ausblick auf den zukünftigen Arbeitsmarkt: Beschäftigung gibt es bei der ehrenamtlichen Unterstützung der Organisation, bei den privaten und öffentlichen Sicherheitsdiensten und im prekären Event-Management.

Die Geduld verlor am Wochenende der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Michael Sommer. Anlässlich der angekündigten Massenentlassung der Allianz, beschimpfte er in der Oldenburger Nordwest-Zeitung Manager wie die des Finanzkonzerns als »vaterlandslose Gesellen«. Es gab im vergangenen Herbst unter Linken Hoffnungen, dass auf die große Koalition bald eine große Opposition folgen werde. Angesichts des hier zum Ausdruck kommenden trüben Bewusstseins, wäre mancher Protest entbehrlich. Denn verglichen mit der reaktionären Rhetorik des DGB-Vorsitzenden wirkt selbst der DFB wie eine Heimstätte des Kosmopolitismus.