9/11: The Trial

Im US-Bundesstaat Virginia stand in den vorigen Wochen der Franzose Zacarias Moussaoui wegen der Anschläge vom 11. September 2001 vor Gericht. Diesmal schaffte es unser Reporter sogar in den Gerichtssaal hinein. von david reed, baltimore

24. März 2006, 0 Uhr

Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich diesen Reportagespritztouren letzten Herbst abgeschworen, aber das war vor dem Verfahren gegen Moussaoui – und hatte ich da nicht auch Schwierigkeiten mit dem Auto oder so was?

Gehe ins Netz, lerne, wie man »Moussaoui« buchstabiert. Google 20 Varianten von »moussaoui verfahren«, »schlange stehen« und »ale­xandria«. Nichts, was darauf hindeutet, dass es Schwierigkeiten beim Einlass geben könnte. Ich kann nicht glauben, dass es so einfach sein soll, dem einzigen Gerichtsverfahren auf US-amerikanischem Boden wegen der Anschläge vom 11. September beizuwohnen, aber wer weiß? Lade einen Plan von Parkplätzen in der näheren Umgebung herunter.

27. März, 0 Uhr

Entscheide mich für ausreichend Nachtschlaf anstelle des Verfahrens; wache früh am nächs­ten Morgen auf und frage mich, was ich verpasse.

Mittags

Ich verpasse Moussaoui im Zeugenstand, der einige Geheimnisse preisgibt. Unter anderem hat er wohl den Grund erklärt, aus dem er die Behörden in die Irre geführt hat: Es sei okay, bei der Durchführung des Jihad zu lügen, oder auch wenn deine Frau dich fragt, ob sie schön sei. Glücklicherweise habe ich die ­Homepage der New York Times alle zehn Minuten überprüft, so dass ich diesen Teil lesen konnte, bevor er von der Website gestrichen wurde. Dennoch, ich hätte beim Gerichtsverfahren dabei sein können. Arghhh.

10. April, 5.45 Uhr

Mit nur zwei Wochen Verspätung bin ich nun auf dem Weg. Zwei Meilen von zu Hause entfernt komme ich auf eine schlechte Straße, und der Motor setzt aus. Noch ein paar Meter weiter bergauf ist ein Parkplatz, wo ich das Auto sicher stehen lassen kann, und ich überlege, wie ich den Wagen dorthin bekomme und wie die Chancen stehen, dass meine Frau mir wieder ihren Wagen leiht.

Bekomme den Wagen zum Laufen, bevor ich zu Plan B übergehen muss; für den Rest des Weges nach Alexandria vermeide ich die Schlag­löcher. Erreiche das Gerichtsgebäude um 7.15 Uhr. Begehe den zweiten großen Fehler des Tages, indem ich meine Kameras mitnehme (im Gerichtsgebäude sind Kameras nicht erlaubt). Fotografiere ein »Verriegelt«-Schild an einer Tür des Gerichts (#1). Gehe zum Pressebereich, werde hinter dem Zelt des Court TV angehalten. Ein Mann mit einer Maschinenpistole bittet um meinen Presseausweis. Glücklicherweise bemerkt er nicht, dass der Ausweis abgelaufen ist. Der Bereich ist ziemlich leer, also gehe ich zurück zum Wagen, um die Kameras wegzubringen. Als ich zurückkomme, stehen 16 Leute vor mir. Pünkt­lich um acht Uhr kommt Bewegung in die Schlange, aber die Frau vor mir gerät in eine Diskussion mit dem Sicherheitspersonal über ihre Tasche, auch meine Schlüssel werden beanstandet, während andere an mir vorbeigehen.

8.05 Uhr

Komme endlich durch. Renne eine Treppe hinauf, nehme den Fahrstuhl zum siebten Stock, aber ich bin zu spät: Die Ausweise für den Gerichtssaal sind alle vergeben. Als Trostpreis bekomme ich ein rotes Klebeschildchen (#2), das mir Zugang zum so genannten Überlaufzimmer auf der anderen Seite der Halle gewährt, wo das Verfahren in niedriger Auflösung, aber immerhin live übertragen wird. Drei große Flachbildschirme (NEC) sind vor den Holzbänken aufgebaut. Um halb zehn hören wir das Tonsignal aus dem Gerichtssaal: »Erheben Sie sich.« Im Saal erhebt man sich aus Respekt vor dem Richter. Ich bin mir nicht sicher, warum man es hier tun sollte, aber alle stehen auf und wenden sich den Monitoren zu. Da die Auflösung so schlecht ist, dauert es einige Minuten, bis ich Moussaoui erkennen kann, der sich am linken Rand des Bildschirms in seinem Stuhl zurücklehnt. Mit ein bisschen Fantasie kann ich mir vorstellen, wie er sich (so wie in den Nachrichten) durch den Bart streicht.

Der Tag beginnt mit einer Diskussion über Fotos. Der Richter ist besorgt darüber, dass die Anzahl der vorliegenden Fotos die Jury unzulässig beeinflussen könnte, und die Regierung erklärt sich bereit, die Zahl auf fünf je Zeuge zu beschränken. Als das geklärt ist, beginnen sie. Es ist schwer zu sagen, was die Jury von den Familienfotos der Opfer hält, aber im Überlaufzimmer blenden sie die Bilder in die Videoübertragung ein, und so sehen wir während der Zeugenvernehmungen riesige Vergrößerungen der dazugehörigen Schnappschüsse. Es ist eine machtvolle Bild-Kombination, und wie der Tag fortschreitet, sehe ich meh­rere Journalisten nach Taschentüchern greifen. Das Verrückte ist, dass alle Opfer von 9/11 Ausländer, Schwar­ze, Moslems oder (in einem Fall) Adoptiveltern gewesen zu sein scheinen (Notiz: Moussaoui ist ein schwarzer ausländischer adoptierter Moslem). Die andere seltsame Sache ist, dass sie anscheinend alle perfekte Söhne/Väter/Töchter/Ehefrauen usw. waren. Mir wird mulmig zumute in solcher Gesellschaft (auch wenn sie nur als Videosignal kommt), aber dann sagt sogar der Regierungsanwalt, er brauche eine kleine Pause, um sich darüber klar zu werden, was für ein schlechter Ehemann er sei.

Gehe zurück zum Auto, esse ein Käsesandwich. Dann mache ich schnell ein paar Fotos vom Medienmüll (#3) und finde in der Nähe ein Souvenir (#4), bevor ich zum Gerichtssaal zurückgehe.

Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr beunruhigt mich die ganze Sache: Ein Kind fand heraus, dass Mama gelogen hatte, als sie sagte, Papa sei nun im Himmel, und das Kind ihn dort während eines Fluges nicht sah; eine andere Frau wurde erwischt, weil sie ihren Kindern kurz vor 9/11 sagte, Mami und Papi seien jung und würden nicht sterben wie der Hund (der kurz zuvor in hohem Alter gestorben war). Es scheint fast so, als wäre 9/11 ein Tag wie jeder andere gewesen, wenn der Verteidigung nur der Beweis gelänge, dass dieser eine Typ tatsächlich nicht der beste Ehemann und Vater war oder dass Eltern ihren Kindern keinen Quatsch erzählen sollten.

Und dann gibt es verrückte Sachen wie diesen Mann aus Südasien, der dem Gericht in gebrochenem Englisch einen Vortrag darüber hält, was es heißt, ein guter Moslem zu sein. Der Streit um die Fotos erscheint mir immer komischer: Egal was die Zeugen vorbringen, die Gewöhnlichkeit der Schnappschüsse bezeugt die Normalität der Opfer und unterläuft (zumindest für mich) alle Versuche der Regierung, sie zu ganz besonderen Menschen zu verklären.

Die Anklagevertretung schließt den Tag mit dem Mitschnitt eines Telefonnotrufs ab, der damit endet, dass ein Mann sagt »Oh Gott, nein« und abbricht, als das World Trade Center über ihm zusammenstürzt. Es ist so beunruhigend, dass ich vergesse aufzustehen, als die Sitzung beendet wird.

Ich weiß, es erscheint ein bisschen seltsam, aber wo ich schon mal in der Nähe von Wa­shington DC bin, kann ich auch zur Einwanderungsdemo gehen. Es ist ein ziemlicher Kon­trast zu dem Gerichtsverfahren, plötzlich in einer U-Bahn voller Demonstranten zu sitzen. Nach der ersten Stunde einer Fahrt, die eigent­lich 20 Minuten dauern sollte, steige ich aus und gehe zu Fuß weiter. Ich bin zu spät und habe Senator Kennedy verpasst, aber dies ist eine der erstaunlichsten Demonstrationen, die ich je gesehen habe. Ich kann nicht genau sagen warum, aber alle scheinen Spaß zu haben. Einer hat eine pragmatische Sicht auf die Dinge: Ein Typ, der für ein Video interviewt wird, bittet um eine Schweige­sekun­de für diejenigen, die beim Versuch, die Grenze zu überschreiten, ums Leben gekommen sind. (Eigentlich bittet er um mehr, aber er sieht ein, dass man unter Zeitdruck steht.) Eben­so ermutigend ist, dass eine erstaunliche Anzahl schrecklich normal aussehender Menschen erschienen ist, um die Sache zu unterstützen. Und vielleicht geht es nur mir so, aber es scheint, als würden die Leute endlich gegen den allgegenwärtigen Hass aufstehen (#5, #6). Ich hole ein Souvenir (#7) aus einem Müll­eimer und mache mich auf den Weg zur U-Bahn.

Am nächsten Tag stoße ich auf einen Bericht, demzufolge ein Sprecher von Fox TV die Proteste als »Ekel erregend« bezeichnet hat. Das und etwas, das eine Lebensmittelvergiftung durch den Hot Dog eines Straßenverkäufers sein muss, bringen mich wieder zur Vernunft. (Verdammte Straßenverkäufereinwanderer!) Unterrich­te bis 22 Uhr. Fahre nach Hause, krieche ins Bett und nach ein paar Stunden wieder heraus.

12. April, 4 Uhr

Diesmal werde ich es schaffen. Fahre langsamer wegen der Schlaglöcher; lasse die Kameras im Auto. Stelle mich um 6.40 Uhr in die Schlange vor dem Gerichtsgebäude, früh genug für den siebten Platz, obwohl die Leute heute früher dran sind, um die einzige existierende Cockpit-Tonaufnahme aus einem der 9/11-Flugzeuge zu hören. Die beiden Männer vor mir in der Schlange sind Rentner und aus persönlichem Interesse hier. Beide waren beinahe jeden Tag des seit sechs Wochen laufenden Verfahrens im Gerichtssaal. Ich stelle mich vor und frage Larry, was er tun wird, wenn es vorbei ist. Es stellt sich heraus, dass er dann eine Menge Bücher und Filme aufholen muss. Aber die müssen während des Verfahrens zurückstehen: Hier wird »Geschichte gemacht«. Dennoch, die Leute scheinen nicht ganz so an Geschichte interessiert zu sein wie vorigen Sommer beim Michael-Jackson-Verfahren (Jungle World 25/05), als man eine ganze Menge mehr tun musste, um in den Gerichtssaal zu kommen, als lediglich um vier Uhr aufzustehen.

8 Uhr

Segle durch die Kontrollen; hole beim Rennen zum Fahrstuhl einen Schritt gegen Larry auf. Dieses Mal erreiche ich die Schlange vor den Kon­trollen im siebten Stock früh genug für eins der begehrten schwarzen Klebeschildchen (#8). Alle anderen gehen wieder hinunter in die Cafe­teria zu Kaffee und Plundergebäck. Ich lasse das Frühstück aus (ich habe seit 24 Stunden nichts gegessen und werde doch jetzt kein Risiko eingehen) und warte die eineinhalb Stunden im Gerichtssaal. Vertreibe mir die Zeit damit, die Lampen zu zählen und die verschiedenen reservierten Plätze (für Gerichtszeichner, für »D-Ausweise«) und die Position der Videokamera für die Überlaufzimmerübertragung zu betrachten.

Die Verhandlung beginnt pünktlich um 9.30 Uhr. (Auf der Skulptur am Eingang des Gerichtsgebäudes – eine Schildkröte, ein Hase und eine Justitia, die in akrobatischem Schwung ihre Brust vorstreckt – heißt es: »Verzögerte Gerechtigkeit ist verweigerte Gerechtigkeit«.) Erhebe mich für die Jury, bleibe während des dreimaligen Klopfens stehen, das den Eintritt des Richters ankündigt. Dann kommt Mous­saoui. Ich starre ihn an, bis er mich ansieht. Schaue weg. Wow! Hat mich wirklich ein verurteilter Mörder angesehen? Der erste Zeuge betritt den Zeugenstand – ein Typ, der etwas vorbereitet hat, das wie ein Video­spiel aussieht: Ein roter Punkt bezeichnet die Position eines Flugzeugs auf einer Karte. Andere Anzeigen geben Höhe, Richtung usw. an, und das Bild eines Flugzeugs auf einem grü­nen Feld ermöglicht es, sich die Dinge besser vorzustellen. Die 30minütige Aufnahme wird vollständig vorgespielt.

Dies ist das einzige Mal, dass die Aufnahme vor Nicht-Angehörigen abgespielt wird: Der Richter hat ihre Versiegelung angeordnet, nur eine Abschrift wird veröffentlicht. Es ist der Ton, der klar macht, dass es sich hier nicht um ein Videospiel handelt, und alle außer Moussaoui sind wie erstarrt. Das dominante Geräusch ist das laute Rauschen des Flugzeugs selbst; außerdem hört man einen deutlichen klirrenden Ton. Das meiste, was gesprochen wird, ist zu laut oder zu leise, um es zu verstehen, aber es ist klar: Egal was sie sagen, es ist sehr ernst. Ich verbringe viel Zeit damit, Moussaoui anzusehen. Manchmal sieht er weg, manch­mal ich. Sein Ausdruck wechselt öfters, dann nimmt er einen Schluck Wasser und macht eine seltsame, Geste mit ausgestrecktem Arm, die vage so aussieht, als ob er auf etwas zeigt. Er scheint ziemlich desinteressiert, bis auf die letzten paar Minuten, als viel auf Arabisch geschrieen wird. Plötzlich hat der rote Punkt das Ende der Strecke erreicht, und es ist still.

Das Gericht zieht sich zurück und Moussaoui, der für seine seltsamen Ausbrüche bekannt geworden ist, sagt »Weltklassezirkus«, als er hinausgeführt wird. Die Reporter rennen zu den Fahrstühlen und müssen sich, weil Handys im Gerichtsgebäude verboten sind, vor Telefonzellen anstellen, um ihre Berichte durchzugeben.

Später sagt der Witwer einer der Stewardessen aus; man spielt die Nachricht, die sie auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hat. Wir hören sie sagen: »Ich hoffe, dass ich dein Gesicht wiedersehen kann, Baby …« Die Aufnahme läuft weiter bis zu einer vertrauten, abgehackten, mechanischen Stimme: »Ende der Nachricht«. Die Regierung lässt ein großes, aufgezogenes Plakat mit den Fotos der Opfer des 11. September zeigen, nur 92 Opfer fehlen. Das Plakat ist so groß, dass der Gerichtshelfer, der es hält, dahinter verschwindet. Es ist erstaunlich, dass man die ganze Sache auf einer Tafel zusammenfassen kann. Die Verteidigung legt Einspruch ein. Die Regierung schließt ihr Plädoyer ab.

Ich weiß, es ist schrecklich, jetzt an Souvenirs zu denken, aber ich habe schon eine Weile mein Auge auf einen Block Post-Its auf einem Tisch nahe der Publikumsplätze geworfen. Ein ein­ziges davon wäre ein großartiges Souvenir, und ich frage mich, ob ich einen Gerichtsangestellten um eins bitten soll. Wäre ich doch bei Larry geblieben, ich wette, er hätte mir eins besorgen können. Aber dazu ist es zu spät, und ich habe nicht die Nerven, etwas zu sagen, also begebe ich mich auf die Toilette, schnappe mir ein Papierhandtuch (#9) und mache mich auf den Weg zurück zum Auto.

Nehme die Kameras; zeige einem weiteren mit einer Maschinenpistole wedelnden Polizisten meinen Presseausweis. Er sieht lange und misstrauisch zwischen meinem Ausweis und meinem Gesicht hin und her und merkt entweder nicht, dass der Ausweis abgelaufen ist, oder kümmert sich nicht darum. Mache Fotos von Journalisten (#10). Ein Typ kommt und stellt sich als Ehemann einer Frau vor, die an 9/11 im Pentagon gestorben ist (#11). Mehr Fotos: eine Reporterin von der BBC (#12), ein möglicherweise übersehener Beweis für irgendwas (noch bin ich mir nicht ganz sicher was) (#13) und ein wenig Gras, das ein Spreng­stoff­spür­hund kurz zuvor untersucht hat (#14). Schließlich fragt mich ein Kamera­mann (#15), für wen ich arbeite (verdammt, ich vergaß, ihn zu fragen, für wen er arbeitet). Er zeigt sich kaum beeindruckt von meinem üblichen Spruch, dass ich für eine deutsche Zeitung arbeite, und will genau wissen, für welche. Vielleicht ist er nur neugierig, aber ich nehme es als Hinweis und gehe zum Parkhaus.

Fahre zurück nach Baltimore, esse. Gehe zu einem Pessach-Seder. Esse noch mehr, trinke, und bedanke mich für die Freiheit. Es gibt ein Lied, Shir hamaalos, das an Feiertagen vor dem Tischdank gesungen wird. Ich kenne es noch aus meiner Kindheit von den Sederim mit Onkel Walter, Tante Fay und der Großmutter, die ich »Oma« nannte, und ich weiß nicht, ob es die Freiheit ist, das Gefühl, ein gutes Essen zu vollenden, oder weil ich gerade zwei Tage damit verbracht habe, 9/11-Geschichten zu hören, aber als ich das Lied vernehme, klingt es einfach unbeschreiblich schön.

Am nächsten Tag sagt Moussaoui wieder aus, und ich muss online davon lesen. Ich könnte in den Tisch beißen wegen dieser weiteren verpassten Gelegenheit. Ich rede mir ein, dass alles okay ist, gehe dann ins Netz, um einen Flug nach Houston zu suchen: Ken Lay wird bald im Enron-Verfahren aussagen, und ich würde es nur ungern verpassen.

Übersetzt von Martin Schuster.