Die aufs Ganze gehen

Robert Menasse sucht das kritische Subjekt und findet den palästinensischen Selbstmordattentäter. von philip hogh

Die Süddeutsche Zeitung schrieb über die jüngst erschienenen und bereits 2005 in Frankfurt/M. von dem Wiener Schriftsteller Robert Menasse gehaltenen Poetikvorlesungen, dass »schon lange nicht mehr so wortgewaltig gegen den Kapitalismus gewettert und zum Umsturz aufgerufen wurde«. Nun geht es in den Vorlesungen Menasses nicht um Poetik. Vielmehr stellen die Frankfurter Poetikvorlesungen für die Vertreter des Literaturbetriebs ungefähr das dar, was die Berliner Rede des Bundespräsidenten für den Politikbetrieb ist: die Möglichkeit, sich vor einer großen Öffentlichkeit über das Gute und Schlechte dieser Welt mitzuteilen, mahnend den Zeigefinger zu erheben und darauf hinzuweisen, dass bei aller Notwendigkeit von Reformen doch auch Maß gehalten werden müsse.

Menasse ist kein Politiker. Er kann sich als Schriftsteller die Freiheit nehmen, zwischen Denken und Realität eine Distanz zu bewahren, die es ermöglichen soll, einen Blick über das falsche Ganze hinauszuwerfen. Seine Kapitalismuskritik fällt darum auch nicht so typisch deutsch aus, wie es der Beifall der Süddeutschen Zeitung vermuten lässt. Menasse führt die Leserinnen und Leser in fünf Abschnitten durch eine politische Geistesgeschichte der Neuzeit. Dabei ist er keineswegs unparteiisch. Seine Perspektive ist die eines Individuums, das sich mit der Kraft des Denkens und der Dichtung gegen die gesellschaft­lichen Zumutungen zu wehren sucht und dabei bereits erreichte soziale Standards nicht unterschritten wissen will.

Eine der größten Errungenschaften der Aufklärung sei es gewesen, dass sie der Menschheit ihren Schicksalsglauben genommen habe. Erst dadurch, dass die Menschen sich individuell über sich selbst als denkende und handelnde Wesen klar wurden, sei so etwas wie das Bewusstsein der Möglichkeit einer Alternative zum scheinbar vorbestimmten Weltlauf entstanden. Heute hingegen scheine die globalisierte Welt aus nichts als Notwendigkeiten zu bestehen, in die sich alle bei der Drohung ihres eigenen Untergangs zu fügen hätten.

Aus den Produkten des menschlichen Handelns sei ein quasi natürliches System geworden, das keinem seiner Mitglieder noch irgendeine Wahl anbiete. Vielmehr stelle es sich dar als alternativloses und weltumspannendes Schicksal der gesamten Menschheit. »Globalisierung, so wie sie heute stattfindet, ist also die technisch perfekte Restauration des Geists der Vorzeit der Neuzeit. Mit einem Unterschied: Heute fügen wir uns in ein Schicksal, das wir, als wir objektiv noch eines hatten, nicht anerkennen wollten.«

Das Problem, das Menasse in den Blick nimmt, ist folgendes: Zwar hat ein geschichtlicher Fortschritt des Bewusstseins und der Formen der technischen Naturbeherrschung stattgefunden. Auf der Stufe eines voll entwickelten Kapitalismus fand jedoch kein weiterer gesellschaftlicher Fortschritt, sondern eine totale Regression in der Form des Faschismus statt, die bis heute die Gesellschaft und das Bewusstsein, das die Menschen von ihr haben, affiziert. Aus dem Versprechen des bürgerlichen Entwicklungsromans von einer aufgeklärten und versöhnten Menschheit wurde kein Leben, »aus unserem Leben aber ein Rückentwicklungsroman«.

Die Figuren aus Goethes Romanen z.B. traten immerhin noch mit dem Anspruch auf Verwirklichung des eigenen Willens und der eigenen Vorstellungen auf. Ein solcher Anspruch wird heute, in der postfaschistischen Welt, von den aufgeklärten Bürgern jedoch kaum noch erhoben. Für Menasse ist es »zwar leicht nachzuvoll­ziehen, aber schwer zu erklären und noch schwerer zu verändern, dass Menschen ja sagen, obwohl sie bei einem Nein keine physische Bedrohung, nicht Folter und Tod zu fürchten hätten«.

Worauf es ihm ankommt, ist es, »nein« zu sagen zu einer Welt, die unserem Willen und unseren Vorstellungen nicht mehr entspricht. An seine Leserinnen und Leser richtet er darum den Aufruf: »Sie sind die Schöpfer ihrer Lebensrea­lität. Sie müssen die Welt zerstören, um sie erschaffen zu können. Eine Welt, in der die Begriffe und die Realität endlich identisch sind.«

Damit leitet Menasse unmittelbar zur Frage nach den Formen des Nein bzw. des Widerstandes über. Er hält ein »Plädoyer für die Gewalt«: »Der Terror von 11/9 ist unsere Rettung im heute letztmöglichen dialektischen Sinn: Ohne ihn gäbe es nichts mehr, was uns an uns erinnerte. Es war dieser Terrorakt, der uns folgende Fragen gestellt hat, die sonst ungefragt gegen uns beantwortet worden wären: Die Abschaffung demokratischer Rechte im Namen des Schutzes der Demokratie – können wir dem zustimmen? (…) Der Terror ist der letzte und stärkste Kitt zur Verewigung unseres Systems und zugleich der letzte und definitive Antrieb zu dessen Überwindung.«

Der Schriftsteller hält den Terroristen und spe­ziell den Selbstmordattentätern zugute, dass sie ­einerseits das bürgerliche Subjekt daran erinnern, einmal einen Anspruch aufs Ganze gehabt zu haben, einen Anspruch auf die Verwirklichung der jeweils nur proklamierten Ideale der Französischen Revolution. Der Terror soll darum zur Rettung der bürgerlichen Gesellschaft beitragen, weil das bürgerliche Sub­jekt in der Auseinandersetzung mit ihm wiederum einen Anspruch aufs Ganze ent­wickeln könnte.

Als Konsequenz daraus denkt sich Menasse ein Subjekt, das sich kritisch gegen die regressiven Tendenzen der bürger­lichen Gesellschaft wendet. Dass der Anspruch eines kritischen Subjekts sowohl die Bekämpfung des Terrorismus als auch die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft zur Folge haben müsste, fällt ihm jedoch nicht ein.

Ähnlich fällt sein Verständnis für palästinensische Selbstmordattentäter aus: »Betrogen wie wir, ideologisch verführt wie wir und missbraucht wie wir, geht der Selbstmordattentäter im Gegensatz zu uns und gegen uns aufs Ganze – d.h. er ist in seiner Praxis, was wir bloß ideologisch sind: das umfassend entfaltete Individuum: einzigartig und auslöschbar, beides bejahend.«

Zwar vollzieht ein Selbstmordattentäter das, was der Souverän von jedem Individu­um verlangen kann – das Selbstopfer für die »Gemeinschaft« –, und stellt insofern tatsächlich so etwas dar wie das barbarisierte Zusichselbstkommen des bürgerlichen Subjekts. Es besteht aber ein Unterschied zwischen einem »aufs Ganze gehen«, das Judenmord bedeutet, und einem solchen, das freie Selbstbestimmung des Individuums genannt werden könnte. Das ist, wenn man so will, ein Unterschied ums Ganze.

Menasse gesteht ein, dass »die Einlösung unserer Ideale und Ansprüche natürlich anders aussähe als die des Selbstmord­attentäters«. Was ihn dennoch fasziniert und daran hindert, neben seinen Gesellschaftsanalysen auch den islamistischen Terrorismus als einen Angriff auf die mög­liche Verwirklichung bürgerlicher Ideale zu kritisieren, ist die Energie des Selbstmordattentäters: »Als Zerrspiegelbild aber ist er das letzte und einzige reale Bild, das uns an uns selbst erinnert bzw. an das, was wir vernünftig wollten: aufs Ganze gehend einen Zustand zu schaffen, in dem wir als ganze Menschen unser Glück finden.« Der Selbstmordattentäter mag das wahnsinnige Zerrspiegelbild des bürgerlichen Subjekts sein. Was er sicher nicht ist, ist ein Vorbild an Einsatzfreude. Dem Dialektiker Menasse entgehen die einfachsten, notwendigen Differenzen.

Von Selbstmordattentätern ist nichts zu lernen, weder formal, was Einsatzfreude und Engagement angeht, noch inhaltlich, was den Antisemitismus betrifft. Außerdem gibt es für ein kritisches Subjekt keine Vorbilder. Was ihm sowohl hinsichtlich der bürgerlichen Gesellschaft, erst recht aber hinsichtlich des Terrorismus allein bleibt, ist »der Geist, der stets verneint« (Goethe, Faust I).

Menasse ist es anzurechnen, dass er es überhaupt unternimmt, die bürgerliche Gesellschaft daran zu erinnern, dass an ihrem Ursprung die Überwindung des Schicksals stand. Dass er bei der Analyse des Selbstmordattentäters aber einer für bürgerliche Intellektuelle typischen Blindheit erliegt, ist umso bedauerlicher.

Robert Menasse: Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung. Frankfurter Poetikvorlesungen. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2006, 142 Seiten, 8 Euro.