Im Hinterland sind noch Plätze frei

Bis März haben illegalisierte Flüchtlinge in Schweden vage Chancen auf ein Bleiberecht. Gleichzeitig wird diskutiert, wie eine Integration von Migranten besser gelingen kann. von bernd parusel, stockholm

Bis Ende März ist in der »Festung Schweden« ein »Fenster geöffnet«. Das Bild stammt von Kalle Larsson, einem Parlamentsabgeordneten der Linkspartei, der sich zusammen mit anderen Politikern und einem Bündnis aus Menschenrechtsgruppen, Kirchen und Gewerkschaften seit Herbst 2004 für eine umfassende »Am­nes­tie« für illegalisierte Flüchtlinge eingesetzt hat. Mit der Kampagne sollte ursprünglich ein Aufenthaltsrecht für Flüchtlinge erreicht werden, die in der Asylbürokratie hängen geblieben oder nach Ablehnungsbescheiden untergetaucht sind.

Die Bewegung scheiterte mehrmals an den regierenden Sozialdemokraten, die entsprechende Gesetzesinitiativen mit Hilfe der bürgerlichen »moderaten Sammlungspartei« ablehnten. Lediglich eine abgeschwächte Form der Legalisierung wurde, vor allem auf Druck der Grünen, doch noch durchgesetzt.

Seit November haben illegalisierte Migranten immerhin die Möglichkeit, sich an die Migrationsbehörde zu wenden und ein Aufenthaltsrecht zu beantragen. Im Gegensatz zum normalen Asylprozess wer­den nicht die Asylgründe der An­tragsteller erneut geprüft, sondern lediglich, ob sie bereits seit mehreren Jahren in Schweden leben, Kinder haben, die in die Schule gehen, und ob sie bislang einen unbescholtenen Lebenswandel geführt haben.

Zurzeit weiß noch niemand, wie viele Migranten durch diese »Amnestie light« tatsächlich ein Bleiberecht bekommen werden. Vertreter der Legalisierungskampagne gehen jedoch davon aus, dass zumindest mit Familien großzügig verfahren wird und dass am Ende einige tausend Flüchtlinge bleiben dürfen.

Der Migrationsbehörde und ihrer Chefin Janna Valik gibt das Sondergesetz auch die Möglichkeit, ihr schlechtes Image ein wenig zu verbessern. Um die Weihnachtszeit hatten Rechtsanwälte der Migrationsbehörde vorgeworfen, bei der Benennung von Pflichtverteidigern, die Asylsuchenden in Kla­geverfahren beistehen, sachkundige Juristen, denen das Schicksal ihrer Mandanten am Herzen liegt, auszugrenzen und stattdessen unerfahrene oder sogar bekanntermaßen nachlässige Anwälte einzusetzen. Die Zeitung Dagens Nyheter deckte zudem auf, dass in mehreren Zweigstellen der Behörde vollzogene Abschiebungen mit Sekt und Kuchen gefeiert wurden und dass ein Sachbearbei­ter, der die Abschiebung einer sehbehinderten Frau durchsetzte, von seinen Kollegen Blumen bekam. Abgeordnete aller im Parlament vertretenen Parteien forderten angesichts dieser Geschmacklosig­keiten den Rücktritt der Behördenchefin Valik. Bis­lang blieb sie jedoch im Amt und beteuerte, die verantwortlichen Personen zur Rechenschaft zu ziehen.

Als der schwedische Pen-Club Mitte November in einem »Asyltribunal« prüfen ließ, inwieweit die Stockholmer Politik internationalen Menschenrechtsstandards gerecht werde, fällten die befragten Experten ein vernichtendes Urteil. Sie stellten fest, dass im Jahr 2004 nur 1,2 Prozent aller Asylbewerber ein Flücht­lingsstatus zuerkannt wurde. In der Statistik der Behörde ist zwar von zehn Prozent die Rede, doch unabhängig davon, ob die Behörde Recht hat oder der Pen-Club, ist zu beobachten, dass immer weniger Asylsuchende nach Schweden gelangen. Von 2003 bis 2005 fiel die Zahl der Anträge um 46 Prozent.

Neben der Asyl- und Flüchtlingspolitik wurden auch in Schweden in den letzten Monaten Migrations- und Integrationsfragen diskutiert. Auslöser waren sowohl die Unruhen in den französischen Ban­lieues als auch die Ankündigung der Vor­sitzenden des Verbands sozialdemokra­tischer Frauen, der kurdischstämmigen Politikerin Nalin Pekgul, ihren bisherigen Wohnort, die multikulturelle Stockholmer Trabantenstadt Tensta, nach 25 Jahren zu verlassen. Einmal mehr wurde debattiert, wie damit umzugehen sei, dass viele Migranten auf zu engem Raum in marginalisierten Vorstädten wohnen. Dort häufen sich Kriminalität und – wie Pekgul erklärte – islamischer Extremismus, die Schüler haben schlechtere Noten als anderswo, die Beteiligung an Wahlen sinkt, und die Arbeitslosigkeit liegt um ein Vielfaches über dem Landesdurchschnitt.

Die hauptsächlich von Einwanderern bewohnten Vororte Tensta oder Rinkeby bei Stockholm, Rosengård in Mal­mö oder Hovsjö in Södertälje seien nicht gleichzusetzen mit Clichy-sur-Bois, sagten zwar die meisten Politiker. Zeitungen schrieben jedoch von einer »sozialen Bombe« auch in den schwedischen Vorstädten – vor allem mit Hinweis da­rauf, dass in Rosengård nur jeder vierte Einwohner im erwerbsfähigen Alter ei­ne Arbeit hat, und in Hovsjö lediglich knapp 50 Prozent.

Kommunalpolitiker wie der Malmöer Bürgermeister Ilmar Reepalu verlangen seit langem Maßnahmen gegen die »Se­gregation der Wohnbevölkerung« in schwedischen Städten. Dass die Migranten auf der einen Seite der Stadt konzentriert sind, meistens der weniger schönen, und die Schweden auf der hübscheren anderen, stört nicht nur ihn. Indes ist unklar, wie angesichts von Unterschieden bei den Mieten und der Tatsache, dass viele Migranten nun mal dort wohnen wollen, wo bereits Landsleute ansässig sind, eine alternative Politik aussehen könnte, zumal ein bereits erprobtes Konzept zur Steuerung der Wohnsitznahme von Migranten nicht unumstritten ist.

Als zu Beginn der neunziger Jahre Flüchtlinge aus Jugoslawien nach Schweden kamen, wurde die so genannte Ganz-Schweden-Strategie entwickelt, die auch heute noch angewandt wird. Vorgesehen ist, dass Asylsuchende und Flüchtlinge über das ganze Land verteilt werden, von Kiruna im Norden bis Ystad an der Südspitze. Insbesondere Gemeinden, die über viele freie Wohnungen verfügen, melden der Migrationsbehörde, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen können, und bekommen dann eine entsprechende Anzahl zugeteilt. Durch diese Streuungspolitik wurde erreicht, dass in einigen Kommunen im Hinterland, die von starker Abwanderung bedroht sind, leer stehende Wohnungen wieder bewohnt werden. Was aber ausblieb, ist das, was man gemeinhin unter »gelungener Integration« versteht: In vielen Gemeinden gibt es zwar Wohnraum, Sprachkurse und psychosoziale Betreuung, aber keine Jobs.

Der sozialdemokratische Premierminister Göran Persson versprach im Herbst vollmundig, zehntausende neue Stellen im öffentlichen Sektor, bei Behörden und »in der Kranken- und Altenbetreuung« zu schaffen, insbesondere um arbeitslose Akademiker in unterbezahlte Arbeitsverhältnisse zu zwingen und die Arbeits­losigkeit unter Zuwanderern zu drücken. Einige Ämter, etwa jenes, das für die Eintreibung von Schulden zuständig ist, haben bereits begonnen, gezielt Bewerber nicht schwedischer Herkunft einzustellen. Zwar ist es die Frage, ob es der Integration dient, wenn demnächst mit ausländischem Akzent sprechende Gerichtsvoll­zieher an die Türen der Schuldner klopfen. Andererseits: Warum eigentlich nicht?