Töte deine Jugend

Woody Allens »Match Point« ist ein Film über die Berechenbarkeit und die Unberechenbarkeit des Glücks. von jürgen kiontke

Mit den Filmen Woody Allens verhielt es sich in den letzten zehn Jahren so: Die Leute sahen sie sich an, rechneten mit Gags über Neurosen und wunderten sich anschlie­ßend, dass sie sich weniger gelangweilt hatten als eingangs gedacht.

Ob in »Everyone Says I Love You« (1997), einem Musical, in dem Julia Roberts trällern lernte, in »Deconstructing Harry« (1997), wo es einen unscharfen Robin Williams zu sehen gab, oder in »Any­thing Else« (USA 2003) sowie »Melinda und Melinda« (2004), Filmen, in denen mehr und mehr – und im Gegensatz zu früher unmaskierter – die Ordnung der Dinge zur Sprache kam, immer gelang es ihm, eigene Schemata und Themen zu durchbrechen. Die Dinge mögen sich ändern, ihre neurotische An­ord­nung bleibt die gleiche. Dennoch riefen die Kritiker: Sackgasse!

Mit seinem 39. Werk »Match Point« verhält es sich ähnlich und auch nicht. Das Licht geht aus, der Film beginnt, und man mag gerade noch denken, oje, 123 Minuten, ist es nicht ein Witz, dass ein Film von Woody Allen den Untertitel »Passion, Temptation, Obsession« trägt? Um nach einer Weile zu bedauern: Oh, schade, in zwei Stunden ist alles vorbei, dabei haben nur ein paar verkleidete Menschen vor der Kamera gezappelt (andernorts werden dafür Riesenaffen in Bewegung gesetzt). »Match Point« ist Woody Allens vielleicht erster Horrorfilm, schön und spannend, er handelt vom Glück in der Welt und seiner Funktion; es kann sich überall zeigen.

Das wird zu Beginn eindrücklich geschildert: Ein Tennisball bleibt im Netz hängen, hüpft einmal hoch und lässt den Betrachter im Unklaren darüber, ob er es über die Netzkante schafft oder nicht. »Wenn du Glück hast, fällt er nach vorne, wenn nicht, dann wieder zu dir zurück«, erklärt die Hauptfigur Chris (Jonathan Rhys-Meyers) die Welt aus der Sicht des ehemaligen Tennisprofis. Ob der Ball davor oder dahinter landet, soll ihn und uns die nächste Zeit beschäftigen.

Chris beginnt, in einem Londoner Club als Lehrer für die Sprösslinge stinkreicher Londoner zu arbeiten. Einen von ihnen wird er bald näher kennen lernen: Tom Hewett (Matthew Goode), mit dem er seine Liebe für Opernmusik teilt. Es wird nicht lange dauern, bis der charmante Sportler in den Armen von Toms Familie und insbesondere in denen von Toms Schwester Chloe (Emily Mortimer) landet. Chris sieht die Chance seines Lebens gekommen und heiratet das etwas blasse Mädchen, das ihn fortan mit Kinderwünschen traktiert. Gleich­zeitig reüssiert er als Juniorchef in einer der Firmen ihres Vaters.

Es könnte alles so weitergehen, wären wir nicht in einem Film, und da wartet immer die dramatische Wende. Sie heißt Nola (Scarlett Johansson), ist Toms ehemalige Verlobte und ganz das Versprechen von Leidenschaft, Versuchung, Besessenheit. Sie soll Chris etwas sehr nahe kommen, nachdem sie aus der Familie ausgestoßen worden ist. Tom hat sie schnell ausgewechselt gegen eine bessere Schwiegertochter, »die auch Mutter gefällt«. Willkommen im 19. Jahrhundert, vollgestopft mit Sachen aus dem 21. Jahrhundert. Allen erzählt seine Geschichte, wie es Ken Loach tun würde – als habe er Maggie Thatchers neoliberales Diktum (»There is no alternative«) auf die persön­lichen Beziehungen seiner Figuren angewendet.

Chris, einerseits überlegter Karrierist, an­dererseits ganz triebgesteuerter Jugendlicher, kann sich dem erotischen Reiz nicht entziehen. Denn wer wäre nicht angetan von der Vorstellung, leidenschaftlich unglücklich zu sein, besessen davon, ­etwas Verbotenes zu tun, anstatt ein ruhiges glückliches Leben an der Seite eines völlig abgesicherten, aber langweiligen Menschen in angenehmer Atmosphäre zu führen? Hier geht’s um Sex, und Chris verfällt in dem Maße Nola, wie ihm Chloe mit ihrem ständigen Gefasel von ihrem Kinderwunsch auf die Nerven geht.

Zynisch mag es sein, wie sich im weiteren Verlauf die Bedürfnisse der beiden Frauen gleichen: Auch Nola träumt von Kind, Küche und Kohle – mit dem Unterschied, dass sie bereits von Chris schwanger geworden ist (»Ich hab gesagt, es ist gefährlich. Aber du konntest ja nicht warten«). Ob reich, ob arm: Immer ist das gesellschaftliche Wohlstandsversprechen an der Ausbreitung interessiert, und wer das vollkommene Glück will, muss es wohl mit Nachkommen ausstaffieren.

Zeit für eine Entscheidung bleibt Chris nicht mehr. Nola macht Terror: »Trenn dich von deiner Frau.« Chloe macht Terror: »Ich will ein Kind.« Da bleibt als letzte Konstante nur der Wohlstand der Familie Hewett, den es noch zu retten gilt. Die Entscheidung ist gefallen, jetzt muss man nur noch Nola loswerden. An dieser Stelle wird der Film polizeikundlich und beschäftigt sich mit der Ausgangsfrage noch etwas intensiver: Wie geht Glück, ist es überhaupt anzustreben, was ist es?

Die Abwesenheit von Schmerzen, möchte man mit Epikur ausrufen, von denen Chris und vor allem Nola noch eine Menge haben werden. Und der Unterschied vor und hinter dem Netz ist groß, was das Glück angeht: auf der einen Seite Geld und langes Leben, auf der anderen Mord und Totschlag. Und beides hängt unabdingbar zusammen.

So repräsentieren auch Allens Figuren verschiede­ne Typen des glücklichen Lebens: Tom etwa, der mit ebenjener Regelmäßigkeit immer auf die Füße fällt, mit der andere ebenso regelmäßig schnurstracks auf die Schnauze fallen. Sein Leben ist nicht nur so eingerichtet, dass er das Unglück der anderen etwa nicht sieht, mehr noch, es existiert einfach nicht.

Chloe ist in ihrem Kinderwunsch so eingesponnen, dass sie Chris’ Zerrissenheit nie bemerkt – und auch nie bemerken muss, weil sie doch ans Ziel kommt. Die Eltern Hewett wissen, dass Glück harte Arbeit und zuallererst Terror bedeutet. Chris meint, sein Glück steuern zu können, indem er ebenjenen Terror ausübt. Und Nola, die – miese Kindheit, Orientierungsprobleme, Undiszipliniert­heit, Depression und Schönheit – von Anfang an verloren hat. Ihnen allen dient das Glücksverspre­chen als Rückgrat der Gesellschaft – starr und un­beugsam für die einen, flexibel für die anderen. Fatalismus macht sich breit, wenn in »Match Point« das Finale droht und der Film wissen lässt: Glück kann auch ein ungesühntes Verbrechen sein.

Woody Allen, der am 1. Dezember 2005 seinen 70. Geburtstag – nein, »feierte« kann man in seinem Fall wohl nicht sagen – nun, der gerade 70 Gewordene hat einen weisen Film gedreht: Schnell, schön und bunt geht’s auf Rundreise über Komödie, Sarkasmus und Zynismus, Themen seiner früheren Filme, die hier nur noch Stilmittel sind, als wären sie Perioden des Erwachsenwerdens: Mit der Jugend geht auch die Unschuld dahin. Biografie ist tragisch, weil sie ein Witz ist, aus der Komödie wird mit einem Schuss Bitterkeit die Farce. Liebe, Lust, Euphorie, all die schönen Dinge – warum sollten gerade sie in Elend und Verderben enden? Und trotzdem tun sie es, weil das Glück des einen das Unglück der vielen bedeutet.

Da steht Allen nun mit Leuten wie Dürrenmatt oder Beckett. Und mit diesem Gefühl kommt man aus dem Kino auch wieder heraus: »Ja, aber.« Bei der nächsten Affäre muss der Aufsteiger Chris andere Register ziehen – und dann? Die Finger davon lassen wird er sicher nicht – und dann? Dafür ist ihm das Leben an der Seite seiner reichen Gattin zu armselig – und dann?

Woody Allen hat sich in »Match Point« den Ba­sics gewidmet; mehr als einen hüpfenden Tennisball hat er dazu nicht gebraucht. Er mache Filme, um sich von Depression, Terror und Angst abzulenken, sagte der Regisseur und Schauspieler unlängst. Dafür kann man, wenn man will, derlei Gefühle neuerdings in seinen Filmen erleben.

»Match Point«. USA 2005. R: Woody Allen. Start: 29. Dezember 2005