Theater der Mundhöhle

Einer der größten Dichter eines grausamen Jahrhunderts: Gherasim Luca (1913 bis 1994). von stefan ripplinger

Das Denken wird im Munde bereitet.« Der Satz des Dadaisten und späteren Surrealisten Tristan Tzara stammt aus der blutigen Mitte eines Jahrhunderts, in dem Gedichte noch der Sprache zu Leibe rückten. Die Gedichte dieses Jahrhunderts, des zwanzigsten, bezeichnen nur einen kurzen, grausam klaren Moment in der langen Geschichte der Poesie. Sie waren aber nicht, wie es die Anhänger von Partei oder Seele damals und heute die von Funk und Fernsehen hinstellen, eitel, leerer Formalismus, Spiel mit Staub.

Das Denken, das Leben ist ein Bissen im Mund des Dichters. Wenn er die Wörter, seine Verse, zerkaut, zerkaut er den Stoff des Lebens selbst. »Der, der das Wort öffnet, öffnet die Materie«, schrieb Gherasim Luca, wie Tzara am heißesten Hot Spot der Avantgarde groß geworden, der nicht in Paris, Rom oder Berlin lag, sondern in Bukarest. »Je m’ora­lise«, sagte Luca, zugleich der schwärzeste und feins­te der Künstler, die aus diesem Bukarest kamen – indem ich mich oralisiere (d.h. rezitiere), moralisiere ich. Es ging stets um viel mehr als bloß um Wörter, aber die Bühne, die dem Theater der Grau­samkeit aufgerichtet wurde, lag mitten in der Mund­höhle.

Leise und artikuliert ging es also nicht immer zu, und auch an Maulheldentum hat es nicht gefehlt. Besonders heftig befehdeten sich Paris und Bukarest. Politisierte sich Paris, wurde in Bukarest bereits die »proletarische Poesie« ausgerufen. Spottete man in Paris über die Familie, gab man in Bukarest ­vatermörderische Manifeste heraus. Betrieb man da die Subversion, war man hier schon an der »Subversion der Subversion«. Allerdings übertrumpften die Rumänen auch die Machogesten der Franzosen und beschimpften Jean Cocteau als »alte Schwuchtel« und »Hure«. Man kannte kein Halten. Wie immer in der Geschichte der Avantgarde fegte am Ende eine höchst banausische Macht die Papier­tiger der Kunst beiseite, und aus dem radikalen Erotiker Geo Bogza wurde ein Staatsdichter, Eu­gène Ionesco und Émile Cioran, die sich dem Faschismus bedenklich angenähert hatten, wanderten, als der Stalinismus übernahm, ebenso nach ­Paris aus wie zuvor schon Tzara, Victor Brauner und Constantin Brancusi, die sich der Revolution verschrieben, der künstlerischen, der politischen oder beiden zugleich.

Wenige Jahre, bevor auch ihn das neue Regime vertrieb und er 1952, über Israel, ins Pariser Exil ging, fasste Luca, gemeinsam mit seinem Freund Dolfi Trost, seine Haltung in all diesen Kämpfen zusammen: »Wir erklären uns einverstanden mit Traum, Wahn, Liebe und Revolution. Wir weisen unter all ihren Aspekten zurück: Kunst, die Natur, die Nützlichkeit, die Trennung der Menschen in Klassen, das Gesetz der Schwerkraft, den Idealismus, die Therapie, das Gemälde, die Trennung von Traum und Leben, die Psychologie, die weiße Magie, das Elend, die Erinnerung, die Tagesreste des Traums, die euklidische Geometrie, die unvorteilhaften Zahlen und den Tod. Wir erklären uns einverstanden mit den Erfindungen des Delirs, den Tränen, dem Schlafwandeln, den realen Funktionen des Denkens, den Lebenselixieren, dem Umschlag von Quantität in Qualität, dem Konkreten, dem Absurden, der Negation der Negation, dem Begehren, der Hysterie, den Pelzen, der schwarzen Magie, dem Wahn der Deutung, der Dialektik der Dia­lektik, der vierten Dimension, dem Simulacrum, den Flammen, der Sünde, dem objektiven Zufall, den Wahnzuständen, dem Geheimnis, dem schwarzen Humor, dem Hellsehen, dem wissenschaftlichen Materialismus und den Blutflecken.« (»Présentation de graphies colorées, de cubomanies et d’objets«, Bukarest, Januar 1945)

Seine noch auf Rumänisch geschriebene Prosa und Lyrik der dreißiger Jahre verbindet den schwar­zen Humor Lautréamonts und Sades mit trotzkistischem Furor (was diese Schriften betrifft, muss ich mich auf Petre Raileanus aufschlussreiche Biographie verlassen). Luca fordert den »Pakt mit der Prostitution, um Unordnung in die Familien zu streuen«, wählt sich Hunde zu Helden, malt Selbstverstümmelungen oder Selbstmordversuche aus – »Ich versuche mich umzubringen, indem ich meinen Atem anhalte« –, lässt sexuelle und politische Initiation mit großer Selbstverständlichkeit in eins fallen. Ernste Entschlossenheit verbindet sich wie später noch oft mit einer unwiderstehlichen Komik. Ein unveröffentlichtes Skript trägt den Titel: »Zwei unsichtbare Frauen pochen an die Tür, ein Todkranker gibt ihnen einen Umschlag von mir«.

»Moartea moarta« (Der tote Tod) schlägt eines der großen Themen seines Lebens an, den Aufstand gegen den Tod. »La mort de la mort de / c’est l’eau c’est l’or c’est l’orge / c’est l’orgie des os« wird es in »La morpho­logie de la métamorphose«, einem Gedicht aus den achtziger Jahren, heißen, also wörtlich: »Der Tod des Todes des / ist Wasser ist Gold ist Gerste / ist Orgie der Knochen«. Und wenige Strophen darauf spricht er, in der Übersetzung von Theresia Prammer, vom »tod des toten todesdespoten / in form der flottierenden flut«. Die Überwindung des Todes im Flüssigen, in der Orgie, in der rau­schenden, fließenden Form – das Thema ist bereits im funkelnden Frühwerk gefunden, es findet seine Vollendung im störrischen Spätwerk.

Und die Luca ganz eigene Methode ist schon im ersten seiner auf Französisch geschriebenen Bücher, dem »Vampire passif« (1945, Neuaufl. 2001), am Werk. Mit Lyrik, Prosa und Fotografien umkreist dieser Vam­pir das, was er »O.O.O.« nennt, »objektiv offerierte Objekte«; das können Fingernägel sein, auf Kleidern gefundene Haare, nach frischem Schweiß duftende Wäsche, abgerissene Bilder, Traumreste der Geliebten, Gesten und – das werden die O.O.O. par excellence werden – Versprecher und Verschreiber. Es sind Funde und zugleich Gaben, es sind erotische Trouvaillen und Körperteile, es sind Fetische.

Die Nähe zu André Bretons »objets trouvés« und zu Hans Bellmers Puppen drängt sich auf, umso wichtiger erscheint es, mit Dominique Carlat (»Gherasim Luca l’in­tem­pes­tif«, Paris 1998) die Unterschiede einzusehen: Anders als bei Breton wird hier auch Abstoßendes aufgelesen und weitergegeben – »Dinge, die mich kastrieren wollen«, überreicht er Personen, denen er sich in Hass­liebe verbunden fühlt ­–, anders als bei Bellmer werden nicht bloß Körper zerstückelt und zusammengesetzt, sondern entsteht gänz­lich Neues. Das gilt ganz besonders von den O.O.O., die seine Wörter sind. Vom Zerteilen, Zerschneiden, Zerhacken wird in den Gedichten nicht nur die Rede sein, sie zerteilen, zerschneiden, zerhacken »main-tenant«, jetzt und im »Hand-Umdrehen«, den Textkorpus. Doch sie kennen zugleich oder gerade deshalb ein unheimlich-heiteres Flie­ßen, die »Wellenform«, wie der Dichter selbst sagt. »In der pythagoräischen Symbolik ent­spricht 000 dem Element Wasser, seine Bedeutung ist ›Einheit von Geist und Stoff‹.« (Raileanu)

Am wichtigsten aber ist, dass diese Objekte, anders als bei Breton und viel stärker als bei Bellmer, Abspaltungen eines zerfallenden Subjekts sind, sie gehören nicht der Welt, sie gehö­ren dem Ich an, einem Ich, das sich selbst nicht mehr gehört: »Wie Lautréamont und Rimbaud hatte ich stets den Eindruck, ich werde erdacht, aber nie zuvor ist es mir widerfahren, dass dieses Andere, das mich denkt, mich selbst verlässt und vor mir als ein gegenständliches, greifbares Objekt erscheint.« Für Luca ist der Fetisch Teil seiner selbst und doch fremd, ein erotisch hoch besetzter Gegenstand, ein Zufallsfund, mehr noch ein Zufallsapparat, und zugleich ein Zauber, mit dessen Hilfe sich das Andere, das uns erdenkt, erkennen lässt. Seine Fetische sind Fackeln im Dunkel von Trieb und Wahn. »ich schreib dich / du denkst mich«.

Der Zauber der Fetische liegt darin, dass, einem von André Breton auf die rumänischen Surrealisten gemünzten Wort zufolge, »die Verkennung zum Erkennen« führt. Gerade dass es gegen seine Bestimmung gebraucht wird, beseelt das Zufällige, Komische, ansonsten Unbrauchbare. Missbrauch und Missverständnis werden hier zur Metho­de; es ist die fundamentale Methode von Gherasim Luca. Beginnt das Spiel des Begehrens und Erkennens mit gefundenen Objekten, sollen aus Objekten Wörter, fremde Wörter werden, französische Wörter.

Missbrauchte, missverstandene Wörter werden zu Objekten des Dichters, der Vers ist sein Messer und sein Wasser, »crime« (Verbrechen) zerreißt in »cri« (Schrei) und »rime« (Reim), »jour« (Tag) zerfließt in »joues« (Wangen), die »vulve« (Vulva) hat »vues« (Blicke). Das Gefäß für das Flüssige, die flie­ßende Form des pythagoräischen 000, ist die zerstückte und doch rauschende Rede, die »flottierende flut« ergießt sich »zwischen dem fluss deines fetts und dem bett deines skeletts / zwischen dem teer deiner arterien und dem lodern in der lunge / zwischen der sendung deiner lenden und den lenden deiner hände / zwischen den häfen deiner schläfen und den taxen deiner achseln« (aus »L’écho du corps« in der Übersetzung von Mirko Bonné). Seine Form ist formlos. In jedem Vers präzise angeordnet, kennt sie weder Anfang noch Ende. Das Gedicht, seine Gestalt, seine Glieder »s’éclipsent«, gehen unter wie die Sonne, an ihre Stelle tritt ein dunkles Strömen.

Nicht erst in Paris muss und will Luca ein »étranjuif«, Fremder (étranger) und Jude (être un juif) in einem, sein. Schon im antisemitischen Rumänien konnte er nicht heimisch werden. Tristan Tzara, bürgerlich Samuel Rosenstock, hat diese Fremdheit in sein Pseudonym gefasst, »triste« (französisch für »traurig«) im »ara« (rumänisch für »Land«), traurig im Lande. Luca, bürgerlich Salman Locker, denkt sich keinen Namen aus, er findet einen. Auch der Name ist also schon objet trouvé, zufällig und doch nicht ganz zufällig gefunden, bedenkt man die klangliche Ähnlichkeit von »Locker« und »Luca«. Gherasim Luca hieß ein Sprachgelehrter, der sich im Alter in das Kloster auf dem Berg Athos zurückzog, dem er als Archimandrit vorstand. Dieser Name ist selbst ein frei gewählter, ge­bildet aus Georg (Gherasim), dem Drachen­töter, und Lukas, dem Evangelisten. Der Dich­ter trägt den Ordens- und Wunschnamen eines Toten.

Sich selbst einen Namen zu verleihen, heißt auch, sich vom Namen des Vaters abzuwenden. Lucas Vater, ein Schneider, stirbt ein Jahr nach der Geburt des Sohnes. Anders als etwa der Dichter Gellu Naum, der seinen im Krieg gefallenen Vater betrauert, erkennt Luca die Gunst, die in der Vaterlosigkeit liegt. Schon 1945 erklärt er: »Der mythische Kampf zwischen der Freiheit und ihrem Gegenteil ist nun in einen zwischen Ödipus und Nicht-Ödipus übergegangen.« Nicht umsonst taucht er in fast allen Büchern von Gilles Deleuze, dem Philosophen des Anti-Ödipus, auf, der Luca »für den größten Dichter der französischen Sprache« gehalten hat; der französischen Sprache, nicht der französischen Literatur.

Der Meister der französischen Sprache konnte Luca werden, gerade weil sie weder Vater- noch Muttersprache für ihn ist, weil sie ihm fremd bleibt. Nur einer solchen unterwirft sich einer souverän. Und wenn der Dichter »auf die Nationen spuckt«, spuckt er auch auf Frankreich. Er gehört zu der Generation von Künstlern, für die der Holocaust stets der Horizont geblieben ist. Mit dem Pathos von 1789 ist es 1942 endgültig vorbei, und aus dem berühmten Vers der Mar­seillaise, »le jour de gloire est arrivé«, wird bei ihm »le four de gloire est arrivé« (Bonné übersetzt: »Der glorreiche Tag liegt Ofen vor uns«). Frankreich muss Fremde bleiben. Sein Entsetzen darüber, dass die französischen Behörden ihn, den »étranjuif«, einbürgern wollen, erklärt sich so. Weil er für ein anderes Exil zu alt ist, wählt er die Flucht in den so sehr verabscheuten Tod. Wie sein Freund Paul Celan ertränkt er sich in der Seine.

Dem Französischen als Fremdsprache hat er vorher nicht gehörte Töne, eine seltene Leidenschaft abgewonnen, gerade indem er seine Rede dem Stottern annähert: »je t’ai je t’aime je / je je jet je t’ai jetez / je t’aime passioném t’aime / je t’aime je je jeu passion j’aime / passionné éé ém émer« (»Passionément«). Der Klang zersplittert die »sichtbare Schrift«, doch der Dichter befreit die »eingesperrte Klanglichkeit« nur, um sie verklingen zu lassen. Lärm und Stille folgen aufeinander, »Lärm und Stille widersprechen einander«. Dieser Gegensatz bestimmt das Werk. »Viel mehr als um eine Tradition oder eine Revolution ist es mir darum zu tun, eine Resonanz des Seienden zu entdecken, das unerträglich ist.« Deshalb müsse das Gedicht zugleich »Silentiophon« sein. Im Vortrag meidet Luca die heute modisch gewordene Virtuosität, und wer ihn – z.B. auf der dem Buchobjekt »Théâtre de bouche« (1984) beigelegten Platte – lesen hört, wird überrascht sein. Nichts von der Exaltiertheit eines Antonin Artaud, er liest sonor, kaum moduliert, wunderbar beherrscht. Es ist, als ob dieser Klangkünstler mit seiner Stim­me kühl in die Luft schriebe, wie er mit seiner Schrift flüstern, schreien, kichern kann.

Carlat meint, erst wenn in Lucas Dichtung Schrift und Stimme zusammenkämen, wenn in der Schrift die Stimme, in der Stimme die Schrift zu erkennen sei, riefen sie jenen körperlichen Schmerz wach, den jeder Mensch bei seinem Ein­tritt in die symbolische, väterliche Ordnung erfahre, beim Sprechenlernen. Es ist wahr, Gewalt ist in jedem Vers von Luca, aber ebenso das Lachen über diese Gewalt. Seine Antwort auf Mal­larmés »Würfelwurf« nennt er einen »Dé-monologue«, zugleich einen dämonischen Monolog und eine »Würfel-Rede«. Darin heißt es: »De l’A au B / Laobé tire la langue / (de pen­due)« (etwa: Von A nach B / spannt Laobe oder Ahnachbeh die Zunge oder die Sprache / (des Gehängten)). In diesem Sinn ist Luca tatsächlich ein Formalist, sogar ein radikaler Formalist; das Alphabet wird ihm zur Tortur, das Gedicht zum »lieu d’opé­ra­tion«, nämlich zum Schlacht- und Spielfeld. Er schlägt das Alphabet mit dem Alphabet, den Zufall der Zeit mit der Zeit des Zufalls, er ist ein »Spie­ler gegen den Tod« (Ulisse Dogà).

Gherasim Luca: Das Körperecho / Lapsus linguae. Gedichte, übersetzt von Mirko Bonné, Michael Hammerschmid und Theresia Prammer. Urs Engeler Editor, Wien und Basel 2004, 552 und 240 S., 29 Euro

Petre Raileanu: Gherasim Luca. Oxus, Paris 2004, 190 S., 17,10 Euro