Neuanfang in Glückseligkeit

Die große Koalition droht mit einer Epoche des Pragmatismus und der Harmonie. von rainer trampert

Es hat in der Tat etwas Befreiendes, dass es nun eine Regierung gibt, in der es sachlich zugeht.Frankfurter Allgemeine Zeitung

Der Vertrauensvorschuss für die große Koalition ist überwältigend. 76 Prozent stehen hinter der Union und der SPD, und ihre Protagonisten besetzen die Spitzenplätze in der Hitliste der beliebtesten Politiker. Matthias Platzeck, der neue Vorsitzende der SPD, kam von null auf eins; es folgen Chris­tian Wulff (CDU), Angela Merkel, der 72 Prozent bescheinigen, dass sie ihre Sache gut mache, und Peer Steinbrück (SPD), dem als Finanzminister für gewöhnlich die Anerkennung verweigert werden würde, weil er Bürgern in die Taschen greife.

Kein Wunder, dass die Großkoalitionäre im Parlament miteinander scherzen und schäkern, als hätte Bruder Barnabas sie soeben auf dem Münchner Nockherberg »derbleckt«. Sie atmen erleichtert auf. Endlich dürfen sie sagen, was sie wollen, ohne befürchten zu müssen, dass ein Politiker von Belang sie maßregelt. Während Bartholomäus Kalb (CDU) im Überschwang sagt, »früher« hätten Deutsche noch auf Fürsorge verzichtet, weil sie »der Gemeinschaft nicht zur Last fallen mochten«, witzeln andere über ihre neuen Freunde, die gestern noch keine waren.

Und jetzt alle gemeinsam

Man könnte sagen: Je angespannter die soziale Lage für Millionen, desto entspannter die Atmo­sphäre im Parlament. Kein Vergleich mit der großen Koalition von 1966 bis 1969, in der Kanzler Kurt Kiesinger seinem Außenminister Willy Brandt vorwarf, er habe vor Moskau »viel zu früh kapituliert«. Die Apo wollte er zum Teufel jagen, während Brandt ihr weise anbot: »Wir brauchen die Herausforderung der jungen Generation, sonst würden uns die Füße einschlafen.« Da passte einiges nicht zusammen. Heute passt alles.

Wenn Matthias Platzeck in der Koalition eine »gute Schule« für eine »neue politische Kultur« erblickt und der Fraktionsvorsitzende der Union, Volker Kauder, sagt: »Wer mitmacht, dient Deutschland, wer mitmacht, ist ein Patriot«, meinen beide aufrichtig dasselbe. Ein Herzensanliegen der Bevölkerung ist in Erfüllung gegangen. Die große Mehrheit mag es nicht, wenn Politiker streiten. Harmonisch soll das Land regiert werden. Wie ein mittelständisches Unternehmen, in dem nur einer das Sagen hat.

Die Zeit ist reif, den Deutschen die Marotte eines versicherten Lebens auszutreiben. Platzeck sieht beste Chancen, jetzt mit der »Komplettversorgung« in »unserem Deutschland« Schluss zu machen, und der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) sieht voraus, dass bei einem Scheitern der Koalition, »die Chance, Menschen dazu zu bringen, Politikern auf einem Weg des Risikos zu folgen«, fast null wäre.

Land ohne Opposition

Das Parlament ist ein Handelsplatz, auf dem der totalitäre Anspruch der Kapitalakkumulation abgeglichen wird mit Belangen der Nation, Lobby-Interessen und Massenbedürfnissen. Politikern fällt die Aufgabe zu, Bedürfnisse, die dem Kapitalbetrieb und der Nation im Wege stehen, auf eine Weise zu eliminieren, die von den Massen möglichst respektiert wird. Das scheint der großen Koalition besser zu gelingen als den Vorläufern. Ihr kommt zugute, dass sie Regierung und Opposition in einem ist.

»Der Wettbewerb der Ideen findet in der großen Koalition statt«, sagt Platzeck in dem Bewusstsein, dass die Regierung in öffentlicher Teamarbeit alle brauchbaren Alternativen abwägen und in Kompromisse gießen wird, die den Mythos der Unanfechtbarkeit ausstrahlen werden. Wie etwa Tarifkompromisse, die nach achtwöchigen Verhandlungen nur durch eine Revolution zu kippen wären. Embedded journalists werden täglich dabei sein und mehr oder weniger vergessen, dass noch andere Parteien existieren.

Nicht das zahlenmäßige Übergewicht der großen Koalition, ihre in der Gesellschaft ruhende Harmonie und das von ihr vorgelebte Gemeinwesen drücken FDP, Grüne und Linkspartei an die Wand. Hundert Rufe nach Untersuchungsausschüssen gegen »Amerika« können nicht verdecken, dass die CIA und Schröders Pipeline nur zu einer temporären Wiederbelebung der Oppositionsparteien taugen.

Man sollte aber differenzieren. Wer im Bundestag Opposition fühlen möchte, wird sich an die FDP wenden müssen, die Kind und Kegel ihrem Marktgott opfern möchte. Dafür gibt es bundesweit mehr Zuspruch als für die Linkspartei. Überall werden Symposien abgehalten wie die »Schönhauser Gespräche«, wo der Historiker Paul Nolte Ludwig Erhard als Schuldigen für die »irrational übersteigerte« Angst der Deutschen vor ihrem Fall in die Armut ausmachte, weil dessen »soziale Marktwirtschaft« ihnen eine »weich gespülte, soziale Version« nahe gelegt habe.

Die Grünen sind derweil zwangsharmonisiert, weil alles, was sie sagen, gegen sie verwendet werden kann. Als Fritz Kuhn der Kanzlerin vorwarf, sie sei zu einer »Kleinschrittkanzlerin« mutiert, weil sie die Unternehmen nicht genug entlaste, konterte ein Sozialdemokrat, die Grünen hätten in ihrer Regierungszeit die Lohn­nebenkosten derart rabiat senken wollen, dass die SPD das Leben der Menschen vor ihnen habe schützen müssen. Den Grünen bleibt nur der Vorwurf, andere hätten ihre Ideen gestohlen. Renate Künast wird gefragt: »Hat Horst Seehofer Ihnen das geklaut?« Künasts Antwort: »Das war meine Zuckerrübenmarktreform, ja.«

Nach den von Künast und Kuhn verfassten Thesen zur Oppositionsarbeit haben die Grünen nun die »Auseinandersetzung mit der großen Koalition und die Sondierung künftiger Regierungskonstellationen« gleichzeitig zu bewältigen. Die Sondierung wird sich durchsetzen, in Baden-Württemberg fällt sie vielleicht schon zugunsten der CDU aus.

Die Linkspartei ist durch den Nachweis ihrer Koalitionsfähigkeit festgelegt. Lothar Bisky warnte seine Delegierten auf dem jüngsten Parteitag in Dresden, »die Gestaltung« nicht einer »bisweilen sozialdemokratisch gemäßigten CDU zu überlassen«, dann vermutlich lieber einer ungemäßigt konservativen SPD. Den Rest ihrer Glaubwürdigkeit büßt die Linkspartei ein durch ihre beiden Sparkoalitionen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern und durch ihre eigene Dumpfheit.

Welches Thema auch verhandelt wird, Oskar Lafontaine kurbelt den Binnenmarkt an, und Gregor Gysi geißelt »Amerika«, ein böses Spiel mit der deutschen Ehre zu treiben. Die Linkspartei bleibt aber ostdeutsche Volkspartei, und sie wird noch gebraucht, um linke wie rechte Verbitterungen in staatsloyale Bahnen zu lenken. Ihr Absturz in den Umfragen auf sechs Prozent mag zu reparieren sein, wenn die neuen sozialen Einschnitte spürbar werden.

Ideologie des Pragmatismus

Die Kommentatoren stimmen darin überein, dass die neue Harmonie von einem »unideologischen Pragmatismus« herrühre, der nur ostdeutschen Führungskräften eigen sei, weil sie in der DDR und nicht auf Juso-Kongressen sozialisiert worden seien. Dahinter verbirgt sich, dass Ideologie nicht mehr als solche begriffen wird, denn Pragmatismus ist geronnene Ideologie in wehrhaftester Gestalt, weil er sie durch die Suggestion, nur das je Berechenbare und Notwendige zu tun, vor Anfechtungen immunisiert. Und so wirkt bei Merkel nichts mehr komisch oder anrüchig. Wie eine distanzierte Lehrerin, der die Kinder zum Hals raushängen, plappert sie Ungeheuerliches so teilnahmslos aus, dass die Provokationen kaum wahrgenommen werden.

Sie will Deutschland »ertüchtigen«, damit das Land in zehn Jahren wieder oben stehe. Sie sagt: »Lasst uns mehr Freiheit wagen. Lassen Sie uns die Wachstumsbremsen lösen.« Gemeint ist die Freiheit des Kapitalwachstums, das durch das Soziale nicht eingehegt werden dürfe. Ungerecht sei, »wenn sich Starke als Schwache verkleiden, um die Gemeinschaft auszunutzen«, während »den Starken« unsere »Dankbarkeit« gebühre. Sie variiert Friedrich Nietzsche. Die Schwachen seien Hindernisse auf dem Weg zur »Ausscheidung eines Luxus-Überschusses der Menschheit, in welcher eine stärkere Art, ein höherer Typus ans Licht tritt«, schrieb Nietzsche.

Merkel spricht so über »die Schwachen«, als hafte ihnen ein genetischer Fehler an. Zu ihrem 50. Geburtstag lud sie den Hirnforscher Wolf Singer ein, damit er den Gästen einmal sage: »Der Mensch ist durch die Abläufe chemischer Prozesse in seinem freien Willen, in der Entscheidung zwischen Gut und Böse festgelegt. Der Mensch verfügt nicht über einen freien Willen, in Wirklichkeit wird er von Neuronen gesteuert.« Die Neuronen-Theorie, die unschuldige, willenlose Menschen impliziert, hätte demnach den Völkermord sowie die Sortierung in Arm und Reich zu verantworten. Wenn Merkel sagt: »Je höher sie ausgebildet sind, desto weniger bekommen sie Kinder«, schimmert durch, dass sie Klugheit für vererbbar hält.

Familie, sagt Merkel, sei, »wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern dauerhaft Verantwortung tragen«. Jeder soll der »Nächstenliebe« seiner Verwandten anheim fallen. »Denken wir an den Aufbau nach dem Krieg.« Dass »Kinder unter 25 Jahren« nun »von ihren Eltern unterhalten werden und nicht vom Steuerzahler«, bedroht eine halbe Million Erwachsener mit der Rückkehr ins Kinderzimmer.

Das »Volk« sei eben eine »Schicksalsgemeinschaft«, die ihre »Traditionen und Kultur« pflege. Emigranten kommen als »Parallelgesellschaften« vor, die nicht »in dieses Denken« passten. Mit »Zwangsverheiratungen oder Ehrenmorden« störten sie »unsere einzigartige kulturelle Vielfalt«, die Merkel auf folgenden Nenner bringt: »Was viele Menschen in unzähligen Gesangsvereinen tun, das hält unsere Gesellschaft zusammen.« Eigentlich tun die nur saufen, aber »Heimat gibt den Halt, den die Menschen brauchen«.

Beschäftigte dürfen zwei Jahre lang ohne Angabe von Gründen entlassen werden, die Renten werden zehn Jahre lang gekürzt, die steuerliche Absetzbarkeit von »Hausperlen« weist auf die Regression in die Dienstleistungsgesellschaft des 19. Jahrhunderts hin. Das alles und selbstverständlich auch, dass »die Verbrechen des Stalinismus« nicht länger »mit Hinweis auf die NS-Verbrechen bagatellisiert« werden sollen, interpretiert Platzeck, der zweite »unideologische Pragmatiker«, als »links«, denn links sei, »neue Chancen für möglichst viele Menschen« zu eröffnen, solange der Vorrat reicht. Er mag den »Leitstern der Freiheit«, aber »wir dürfen uns selbst nie genug sein«, sondern müssen an Deutschland denken. Dann küsst er Andrea Nahles, die sich wie die Jungfrau von Orléans fühlen darf, weil die Partei ihr den Platzeck zu verdanken hat. »Er ist ein Juwel«, sagt eine Delegierte. »Das war fast schon Willy Brandt«, jubelt Ludwig Stiegler (SPD). Die Harmonie hat die SPD noch mächtiger heimgesucht als die Koalition. Was »Münte« geschah, darf sich nie wiederholen, obschon sein Abgang für die Partei ein Glücksfall war.

Rot-grünes Erbe

Nun machen zwei in der DDR sozialisierte Autoritäten noch keine deutsche Geschichte. Man sollte die Vorleistungen der rot-grünen Epoche würdigen. Der schicksalhafte Glaube an die Unabwendbarkeit dessen, was geschieht, festigte sich extrem, weil zwei Parteien, die viele Menschen als traditionelle bzw. moderne Widerstandsbewegung begreifen, sieben Jahre ritualisierten, dass das, was geschieht, halt alternativlos sei. Der Staat wurde unter Schrö­der entgegen der Theorie, die ihn den globalen Finanzströmen ohnmächtig ausgeliefert wähnt, so mächtig, dass er das Kapital nahezu protestfrei um 60 Milliarden Euro Steuern entlasten, Unterschichten rabiat belasten und die Nation zu einem relevanten Konkurrenten der USA in Stellung bringen konnte.

Darauf lässt sich bauen. Doch die ersten Schritte Merkels auf außenpolitischem Terrain waren etwas holprig. Man hat sich im Koalitionsvertrag zur »Vermittlung eines besseren Verständnisses« für die USA verpflichtet, muss sich aber mit CIA-Flügen und Folter herumschlagen. 81 Prozent der Deutschen halten die CIA-Methoden für »nicht angemessen«. Genauso viele hatten Verständnis für die Folter in Deutschland.

Zu ihrer Beruhigung sagte Merkel, Condoleezza Rice habe Fehler eingestanden, was die US-Regierung dementierte. Das wird Merkel nicht wiederholen dürfen, oder die USA lassen durchsickern, wo deutsche Geheimdienste ihre Finger im Spiel haben, von Syrien über den Iran bis nach China. Auch die Beziehungen zu Großbritannien und zu Osteuropa sollen verbessert werden. Aber Tony Blair will die EU-Gelder für Osteuropa kürzen, weil er nicht die Infrastrukturen für deutsche Ansiedlungen finanzieren möchte. Da hat Merkel ein zweites Mal Jacques Chirac besucht, der sie herzend verschlang.

Merkel wird die Schatten, die Schröder und Fischer geworfen haben, nicht los, will sie den Kon­flikt mit der Wirtschaft nicht riskieren. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellt befriedigt fest, dass die Sorge, unter Merkel könne der deutsch-russische Frühling in einen »vorzeitigen Winter einmünden, überzogen war«. Aber ist das ihr zu verdanken? Wie beim Hase-und-Igel-Spiel begegnet Schröder ihr nun als Aufseher der deutsch-russischen Pipeline.

Russland verfügt über 40 Prozent der Gasreserven der Welt. Da wollen die beteiligten deutschen Konzerne den »konkurrierenden, schnell wachsenden und energiehungrigen Volkswirtschaften China und Indien« das russische Gas wegschnappen (Eon) und Deutschland »zur wichtigsten Drehscheibe für den innereuropäischen Gashandel« machen (BASF). Polen, die Ukraine und die baltischen Staaten haben das Nachsehen; sie verlieren sogar ihren Wegezoll. Wie soll Merkel die Beziehungen zu ihnen verbessern? Sie versprach eine »deutsch-polnische Arbeitsgruppe zur Energiepolitik«, also nichts. Auch die neue Gedenkstätte der »Vertriebenen« löste keine Freude aus.

Als Nächstes soll Merkel Israel und den USA erläutern, dass Deutschland Großinvestor im Iran bleiben will, obwohl dort ein vom Antisemitismus getriebener Präsident residiert. Sie wird sich wohl auf Plänkeleien beschränken und die Realexpan­sion Schröders Geheimdiplomaten, dem neuen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, überlassen, der den außenpolitischen Stil allerdings grundlegend verändern dürfte. Mit ihm kehrt Außenpolitik wieder zu früherer Verschwiegenheit zurück. Er wird nicht nach jeder Errungenschaft die Sektkorken knallen lassen wie Schröder, sondern betonen, dass Recht und Gesetz in Amerika und in Deutschland beachtet werden und alles Weitere den geheimen parlamentarischen Kontrollgremien berichten.

Sollte Steinmeier aber in der CIA-Affäre gelogen haben, hat die große Koalition ein ernstes Problem, und die deutsche Wirtschaft wird Schröder bitten, nicht nur die deutsch-russische Achse, sondern auch die Geschäfte mit China, Iran, Zentralasien, Afrika und Südamerika zu beaufsichtigen.