Ich kotze ein A!

Berliner Silvestervorbereitungen

Meine Mitbewohnerin ist eine dieser neuerdings wieder zahlreicher werdenden, fürchterlich selbstbewussten Frauen, die sich mit einem gewissen Stolz den Schädel rasieren und buntgestreifte Strumpfhosen und Kapuzenpullis tragen, auf welche alberne Namen von fragwürdigen Bands aufgedruckt sind, z.B. »Agoraphobic Nosebleed«. Obendrein lebt sie aufgrund einer unausrottbaren Marotte vegan und weigert sich standhaft, von Tellern zu essen, auf welchen schon einmal ein Hühnchenknochen gelegen hat. Sie wissen schon.

Neulich hatte sie schon wieder eine der Ideen, die sie für geistreich hält. Keine der herkömmlichen Methoden, Menschen ihre Zukunft zu deuten, sei wirklich überzeugend, meinte sie. Dabei gebe es doch heute Mittel und Wege, das vollständig veraltete Verfahren des Bleigießens, das uns an Silvester wieder bevorstünde, »zeitgemäß aufzupolieren«. Bleigießen sei ein »abgestandenes Altherren­vergnügen«, das, was die »Performance« betreffe, gewaltige Mängel aufweise und nur dazu da sei, um »gelangweilte bürgerliche Snobs ein wenig zu enthusiasmieren«.

Ihr Vorschlag sei hingegen eine von ihr kreierte, gänzlich neuartige Methode, den Silvestergästen die Zukunft vorherzusagen. Sie nennt es »Buchstabenkotzen«. Und das geht so: Die Beteiligten haben neben erheblichen Mengen alkoholischer Getränke ausschließlich so genannte Buchstabensuppe zu sich zu nehmen. Dabei handelt es sich um eine rasch zuzubereitende Tütensuppenvariante, bei der die Nudeln die Form der Buchstaben des Alphabets haben. Alle Teilnehmer des Verfahrens hätten »aller Erfahrung nach« in der Folge zwangsläufig das Bedürfnis, sich zu gegebener Zeit wenigstens der Buchstabensuppe wieder zu entledigen, ruckartig gewissermaßen. Und eben die Beobachtung dieses Geschehens, so sagte sie mit wissendem Lächeln, sei nicht nur der »Hauptspaß«, sondern auch eine, wie sie es bezeichnete, »magische Zeremonie«, die ihresgleichen nicht habe.

Insbesondere aus den »noch ganz frischen«, vulgo unverdauten Nudelbuchstaben, die nach ihrem erfolgreichen Wiederhervorbringen auf der gewählten Fläche in je spezifischer Weise angeordnet seien, ließe sich ohne weitere Schwierigkeiten, »mit etwas Fingerspitzengefühl«, die Zukunft der lädierten Probanden voraussagen. Die von nur ganz wenigen Experten und naturgemäß nicht von jedem Dahergelaufenen beherrschte Kunst bestehe darin, sowohl die Schriftzeichen als auch deren präzisen »Bedeutungshorizont« in der Lache zu deuten und derart einen Blick in die Zukunft zu erhaschen.

Wie beim Legen der Tarot-Karten habe auch jeder Buchstabe eine ihm eigene Bedeutung, die es keinesfalls zu unterschätzen gelte. »Das funktioniert. Ich habe darin Erfahrung. Vertrau mir.«

Das bedrückende Problem, so meine Mitbewohnerin, bestehe für sie darin, dass die für eine rundum gelungene Action unbedingt notwendige Buchstabensuppe nicht vegan sei, was zu ihrem nicht geringen Bedauern sie selbst daran hindere, zu Silvester an einem solchen Procedere teilzunehmen.

Und genau zu diesem Zeitpunkt kam mir der erlösende, entscheidende Gedanke, der alle Zögerlichkeiten meiner Mitbewohnerin auf einen Schlag gegenstandslos machte: »Das Zeug spritzt doch wieder aus dir heraus. Stell dich doch nicht so an. Du isst es ja praktisch nicht wirklich, sondern du bietest ihm gewissermaßen lediglich eine Art Kurzaufenthalt in deinem Körper an, und danach landet es auf der Straße. Wo ist das Problem? Es ist im Grunde nicht anders als das Gurgeln beim Zähneputzen.«

Und siehe da, sie begriff plötzlich: »Ich mache mit an Silvester.«

thomas blum