Beyond Neverland

Der Prozess gegen Michael Jackson ist vorüber. david reed kam spät, aber nicht zu spät

Baltimore, Maryland, 10. Juni 2005

Ich weiß nicht warum, aber Jahrhundertprozesse sind auch nicht mehr, was sie mal waren. Vor ein paar Tagen stellte CNN die Berichte über den Jackson-Prozess (und alles andere) für Stunden zurück, weil auf irgendeinem Freeway in L.A. eine Verfolgungsjagd stattfand. (Sie wussten nicht mal, wer in dem Auto saß.) Die Leute scheinen sich nicht mehr so sehr für Promi-Verfahren zu interessieren wie früher.

Ich hatte mir eigentlich geschworen, nicht hinzufahren, aber je länger die Beratungen der Jury dauern, desto schwieriger wird es zu widerstehen. Ich ertappe mich dabei, wie ich aufmerksam zuhöre, wenn diverse »Experten« die Feinheiten der Juryauswahl diskutieren.

Egal, ich habe mich entschieden: Sollten die Beratungen nächste Woche noch andauern, werde ich nach Santa Maria fliegen und mal nachschauen. Verbringe den Tag damit, das Auf und Ab der Flugpreise und die Blogs zu verfolgen. (Eine Kolonne Geländewagen hat Jacksons Ranch verlassen, was zu Spekulationen führte, das Urteil solle verkündet werden, aber wie sich zeigte, fuhren die Wagen bloß zur Waschanlage.)

17.30 Uhr

Es ist offiziell: heute kein Urteil. Klicke auf »Kaufen« auf der Airtran-Website, bevor die Preise wieder steigen.

11. Juni

Neues Verfahren bei den Sicherheitschecks (zuerst die nagelneue Puffer-Sicherheitsmaschine, dann Röntgen, Herauswinken, Gepäcküberprüfung usw.); verpasse fast meinen Anschluss in Atlanta, und nach zwei Tütchen Salzbrezeln bin ich in Los Angeles.

12. Juni

Ah, Los Angeles – die Meeresbrise in den Baldwin Hills, Joes Grillsteaks und ein Whirlpool unter dem Bambus – das ist ein Leben. Aber deswegen bin ich nicht hergekommen. Nach einem Zwischenstopp am Flughafen von Santa Barbara, wo ich den Hangar suche, in dem Michael Jackson seine Limousinen (und anderes Zeug) lagerte, mache ich mich auf den Weg nach Santa Maria.

Es ist ruhig vor Jacksons Neverland-Ranch (# 1), und die wenigen Fans dort warnen mich. Eine Deutsche erzählt mir, dass ich Schwierigkeiten bekomme, falls Jacksons Securityleute mich hier finden, aber es ist keine freundliche Warnung. Die Berichterstattung der letzten Wochen war zu negativ. Journalisten, so macht sie mir klar, sind nicht willkommen.

22 Uhr

Finde ein Hotel in Santa Maria mit nur wenigen Löchern in den Wänden und suche nach der Fernbedienung (keine Fernbedienung!). Diese Geschichte macht keine Schlagzeilen und scheint auch im Fernsehen nur spärlich gebracht zu werden.

Santa Maria, 13. Juni, 12.30 Uhr

Hier ist was los! Ein Parkplatz voller Ü-Wagen, überall rennen Presse und Demonstranten herum. Einige rezitieren vor dem Gerichtsgebäude Bibelpassagen, Michael-Jackson-Fans halten dagegen (# 2). Gerade ging jemand in einem Froschanzug vorbei und machte Werbung für seinen neuen Film. Ein Fotograf scheint besorgt, ich könne ihm die Story wegschnappen, als ich dem Frosch und seinem Manager auf die Eisenbahngleise folge (# 3) (Und ich glaube, das habe ich auch: Der Frosch sang mir etwas auf Deutsch vor!) (Notiz für mich: Frosch kontaktieren und den Text geben lassen.)

Ich bekomme ein Exklusivinterview mit einem Fotografen von Reuters, der in einem Gartenstuhl sitzt und eine Zigarre raucht. (Die Beratungen haben sich so lange hingezogen, dass ihm seine Zigarren ausgingen, aber offenbar gibt es einen guten Zigarrenladen in Santa Maria, und jetzt ist er für alles bereit!) Sein Handy klingelt, und plötzlich scheinen alle Handys zu klingeln. Ich würde ja in meinem Büro anrufen, aber da ich keins habe, rufe ich zuhause an und frage meine Frau Vika, ob sie den Fernseher anschalten könne. Die Jury ist zu einem Ergebnis gekommen, das in einer Stunde verkündet werden soll. Die Fans drehen durch; manche weinen, alle rennen herum und machen sich bereit für den großen Moment.

Ich finde einen Platz neben dem Team von Fox und höre, wie sich ihr Reporter für die schlechten (Live-) Bilder von Jacksons Wagenkolonne auf dem Weg zum Gericht entschuldigt: Die Fernsehteams aus L.A. haben viel Übung beim Wechseln der Satelliten, wenn die Hubschrauber des Fernsehens die Freeways absuchen, aber hier draußen auf dem Land verlieren sie immer wieder das Signal. Es gibt nicht viel zu fotografieren. Ich stehe hinter zwei Reihen von Zäunen in einem kleinen abgetrennten Bereich, aber immerhin werde ich den King of Pop leibhaftig sehen …

Jacksons Gefolge hält nur ein paar Meter von mir entfernt; zwischen seinem Geländewagen und den Fotografen vor mir (sie haben ihre Claims vor Monaten abgesteckt) habe ich Glück, einen Blick auf seinen Regenschirm zu erhaschen, bevor er im Gerichtsgebäude verschwindet.

Beinahe jeder macht sich auf den Weg zu den Jackson-Fans oder zum Hintereingang (wo er herauskommen wird, sollte er schuldig gesprochen werden). Aber ich höre die Unterhaltung von Polizisten in Kampfmontur und habe keine Lust, in der Mitte einer wütenden Menge festzustecken. Also bleibe ich hier und fotografiere herumstehende Journalisten (# 4) und schließlich die Zäune, während das Tosen der Menge bei jedem »nicht schuldig« aufbrandet. Glücklicherweise habe ich gute Sicht auf Jackson, als er herauskommt, aber ich habe mein Teleobjektiv im Auto gelassen und finde es schwierig, mit einer Hand scharf zu stellen, während ich mit der anderen Videoaufnahmen mache.

Hinterher mache ich ein paar weitere Bilder von Journalisten. Und ich glaube, ich bin der einzige, der das Wasser fotografierte, das Michael Jacksons Wagen hinterließ, bevor es verdunstete. (Wahrscheinlich war es die Klimaanlage.) Dann sehe ich eine viel schönere Flüssigkeit auf dem Boden (# 5): Ein Mädchen hat ihr Eis verloren. Aber seine Mutter spricht kein Englisch, und mein Spanisch reicht nicht für ein Interview, also gehe ich in die Menschenmenge und höre, wie eine Frau einem Reporter erzählt, sie habe Gott versprochen, sie werde ihm ihr Leben widmen, sollte Michael »nicht schuldig« befunden werden. (Wow!) Überall weinen Menschen und sagen, dies sei der glücklichste Augenblick (wahlweise einer der glücklichsten Augenblicke) ihres Lebens. Die etwas punkigen Kids scheinen mir die nettesten von allen zu sein. Sie sind auf der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit nach Neverland, wo ich auch hin will. Ich würde sie gerne mitnehmen, aber es gibt Konfetti, kleine rote Pappherzen (# 6) und verschiedene andere Dinge (# 7, # 8), die die Leute liegen gelassen haben. Und dann gerate ich in eine Unterhaltung mit einem Typen namens Paul, der die ganze Sache mithilfe der Kabbala vorhergesagt hat. Er konnte es selbst kaum glauben und war so aufgeregt, dass er bei einem Radiosender anrief, um ihnen diese Neuigkeit mitzuteilen. Aber sie wollten es nicht senden.

Figueroa Mountain Road, nahe Neverland, 20 Uhr

Die Stimmung ist erstaunlich gedämpft. Anscheinend kam jemand von Jacksons Leuten heraus, sagte, dass Michael sich hinlegen werde, und bat die Leute zu gehen. Noch immer sind ungefähr 20 Satelliten-LKW da, und eine Menge Reporter sendet Liveberichte. Ich höre, wie einer seinem Erstaunen Ausdruck gibt, dass die Fans immer noch feiern. (Wenn dies der glücklichste Tag meines Lebens wäre, würde ich auch nicht um acht Uhr abends ins Bett gehen.) Mache ein paar Fotos und Videoaufnahmen; fahre die Straße hoch zu einem Campingplatz auf dem Berg. Er ist umsonst, und ich brauche mir keine Gedanken um Löcher in den Wänden zu machen.

14. Juni

Der Ehrenamtliche vom National-Forest-Campingplatz erweist sich als ein Rabbi, zumindest stellt er sich als solcher vor. Ich bin stolz darauf, der Erste zu sein, der ihm mitteilt, dass Michael Jackson ein freier Mann ist, und er freut sich, die Nachricht auf altmodische Art zu bekommen. Wir quatschen so lange, wie ich dort stehen und Moskitos erschlagen kann. Später lese ich ein Zitat von Bezirksanwalt Tom Sneddon in der Santa Maria Times: Man müsse schon ein Vogel Strauß sein, der seinen Kopf in den Sand steckt, wenn man noch nichts von dem Urteil gehört habe. Oder ein freundlicher Rabbi im National Forest.

Unten im Camp Neverland sind nur noch wenige Journalisten, aber ich möchte nichts verpassen, also bleibe ich noch. Bis ich mir Sorgen mache, ich könnte beim Gerichtsgebäude etwas verpassen.

Fahre nach Santa Maria, wo das Team von Fox so nett ist, mich die Akkus meiner Videokamera aufladen zu lassen. (Notiz für mich: nächstes Mal mit dem Schlafsack Ersatzakkus einpacken.) Telefoniere und checke E-Mails am NBC-Hotspot. Als ich zu meinem Wagen zurückkomme, gibt es ein Handgemenge und Beschimpfungen zwischen CNN und ABC. Schließlich wird die Polizei gerufen. Aber da bin ich schon damit beschäftigt, den anderen Fernsehteams zuzusehen, wie sie sich von einander verabschieden. Als ich zurückkomme sind alle weg.

Fahre zurück nach Neverland und finde ein paar der etwas überschwänglicheren Fans (zumeist spanische) beim Seilspringen (# 9). Zum ersten Mal sieht es so aus, als ob die Leute Spaß haben, und vielleicht ist es genau das, was die Journalisten stört, die sich gerade über ihre langen Arbeitszeiten beschwert haben. Einer meint, das sei eben das, was in diesen sozialistischen europäischen Ländern passiert: Leute fahren einfach wochenlang in Urlaub, singen und springen Seil. Was mich angeht, mache ich mich bereit, nach Europa zu ziehen oder doch zumindest mit den spanischen Fans rumzuhängen.

Aber dann gibt es große Unruhe, und eine Gruppe nähert sich einem Fernsehteam, das auf Sendung ist. Sie macht so viel Lärm, dass das Team nicht anständig abmoderieren kann, und geht erst, als der Kameramann das Licht ausmacht. Das Team ist sauer, und irgendjemand ruft die Polizei. Ich weiß nicht genau, was daran illegal ist, einen Livebericht zu stören, aber die Polizei kommt und spricht mit den Fans; als alle gehen, ertönt ein Ruf: »Fuck the press!«

15. Juni

Es geht nichts über eine gute Nachtruhe und eine Dusche am Morgen. Die Frau im FoodMaxx gestern Abend dachte, ich leide an Allergien, dabei waren es doch bloß die zwei Tage mit Sonnencreme in den Augen.

Ich bin auf dem Weg zurück zum Gericht, als ich den Lkw einer Firma für Miettoiletten bemerke. Ich folge ihm zu dem gestern noch heiß umkämpften CNN-Parkplatz und werde mit einer Exklusivaufnahme vom Abtransport der CNN-Klos belohnt.

Später, auf dem Gerichtsparkplatz, treffe ich einen Gesinnungsgenossen beim Durchsuchen von Müll (# 10). Als ich ihm sage, ich sei Journalist, zieht er ein Zeitungsfoto von sich und Joe Jackson hervor. Nicht nur dass er letzte Woche groß in den Nachrichten war: Wie sich herausstellt, durfte er vor ein paar Jahren in einem völlig anderen Fall Michael Jacksons Hand schütteln; er führt mich zu dem Raum im Gerichtsgebäude, wo es passiert ist, wiederholt die Geschichte für meine Videokamera und versichert mir, dass er an Jacksons Händedruck erkennen konnte, dass er keine Kinder belästigt. Er deutet wiederholt an, dass er mir eine Menge mehr erzählen könnte, dass ich jedoch nicht die richtigen Fragen stellte. Ach, könnte ich doch bloß die Fragen richtig stellen!

Die Seilspringer von Neverland scheinen heute zumeist Amerikaner zu sein. Vielleicht liegt es an mir, aber ich glaube nicht, dass sie so gut sind wie die Spanier. Als ein Reporter »Seilspringen« sagt, schlägt ein Producer sanft vor, »Seilhüpfen« sei vorzuziehen, aber dass »Seilspringen« auch gut sei. Fotografiere Jacksons jüngsten Fan (drei Monate alt) und bekomme noch mehr Exklusivaufnahmen, diesmal von der Abfahrt des letzten Satelliten-Lkw.

16. Juni

Es gibt noch ein paar Dinge zu klären im Fall Michael Jackson, und die sind für diesen Morgen angesetzt. Alles ist erstaunlich locker für einen so erregenden Fall. Statt die Regeln des Gerichts zu verkünden, eröffnet der Vertreter des Sheriffs die Verhandlungen mit der Frage: »Sie alle wollen die Ansprache?« Niemand scheint sie zu wollen, also fangen sie an.

Alle sind sehr freundlich und nett: Den Medien sollen die meisten der bislang vertraulichen Dokumente zugänglich gemacht werden, und Richter Melville versichert dem Vertreter der Medien, dass er seine Haltung versteht und keinen seiner Kritikpunkte persönlich genommen hat.

Und Michael Jackson erhält seinen Reisepass zurück, wenn sie erst herausgefunden haben, wer ihn hat.

Nachher bleibe ich dabei, während die Rechtsanwälte mit Jornalisten diskutieren (# 11). Dann fahre ich zurück nach Los Angeles; halte unterwegs an, jogge kurz und schwimme noch kürzer im eiskalten Wasser. Stecke in einem Stau bei Santa Barbara fest – irgendeine Autojagd, sechs Hubschrauber kreisen über uns.

Am nächsten Tag ist es die Titelgeschichte der L.A. Times.

aus dem amerikanischen von martin schuster