Bei Anruf Streik

Nach zahlreichen Morddrohungen trat der Schiedsrichter Anders Frisk zurück. Die Reaktionen seiner Kollegen zeigen, dass sie die Refereebeschimpfungen satt haben. von elke wittich

An einem x-beliebigen Sonntag an einem x-beliebigen Fußballplatz vorbeizukommen und angesichts des dort stattfindenden Spiels irgendeiner unterklassigen Liga »gleich gewaltigen Ärger« vorauszusagen, beeindruckt wirklich nur Menschen, die noch nie in ihrem Leben irgendeinen Live-Kick gesehen haben. Denn irgendjemand nimmt nach einem Spiel immer irgendetwas übel, und zwar meist dem Schiedsrichter. Der muss sich im günstigsten Fall eine Menge Beleidigungen anhören oder sich im ungünstigsten vor dem Zorn der wütenden Fans und Funktionäre in der Kabine einschließen.

Schiedsrichter in den Profiligen haben es, so sollte man meinen, da schon etwas besser. Sie werden zwar regelmäßig als »schwarze Sau« beschimpft, aber entgegen allen Beteuerungen wissen die Fans meist nicht, wo die Autos der Referees stehen, zudem verhindern Wachschützer und bauliche Maßnahmen wie überdachte Gänge normalerweise, dass die Fans den Schiedsrichtern zu nahe kommen.

So fühlte sich wohl auch der schwedische Unparteiische Anders Frisk recht sicher, als er am 23. Februar die Achtelfinalbegegnung der Champions League zwischen dem FC Chelsea und dem FC Barcelona anpfiff. In deren Verlauf zeigte er dem Chelsea-Stürmer Didier Drogba die gelb-rote Karte, eine umstrittene Entscheidung. Aber mit größerem Ärger als einigen aufgebrachten Kommentaren rechnete der 42jährige Referee zu diesem Zeitpunkt sicher nicht.

Auch dass der Trainer von Chelsea, José Mourinho, ihm nach Spielende vorwarf, seinen Verein gezielt verpfiffen und sogar in der Halbzeitpause den Trainer von Barcelona, Frank Rijkaard, in seiner Kabine empfangen zu haben, dürfte Frisk als zwar unschön, aber eher normal empfunden haben.

Dann jedoch begannen »die schlimmsten 16 Tage in meiner gesamten Schiedsrichter-Karriere«, sagte der Versicherungsvertreter später entnervt. Frisk und seine Familie erhielten Morddrohungen, telefonisch, per Brief, per E-Mail. »Ich hatte solche Angst, dass ich meine Tochter einfach nicht mehr den Briefkasten öffnen ließ«, sagte er. Nach mehr als zwei Wochen gab der Schiedsrichter schließlich auf. »Ich werde nie wieder einen Fußballplatz betreten«, betonte er in einem Interview mit dem schwedischen Fernsehsender TV 4. »Ich habe sehr viel überlegt, und diese Entscheidung steht nun unwiderruflich fest, es gibt kein Zurück.« Und er begründete seinen spektakulären Schritt so: »Ich habe dem Fußball viel zu verdanken, aber die Sicherheit meiner Familie geht vor.«

Anders Frisk hatte bis zu diesem Zeitpunkt eine Bilderbuchkarriere als Schiedsrichter gemacht. Seine erste internationale Begegnung pfiff er im Jahr 1991, damals traf die Türkei auf Island. Kurz darauf wurde er als Unparteiischer bei der U 16-Europameisterschaft eingesetzt, zwei Jahre später leitete er Begegnungen der U 17-WM. 1996 durfte er bei der Europameisterschaft pfeifen, seinen letzten ganz großen internationalen Auftritt hatte er im Jahr 2002 bei der Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea, zwei Jahre später leitete er bei der EM die Begegnung zwischen der Bundesrepublik und den Niederlanden.

Ärger war Frisk dabei durchaus gewohnt. Mitte September des vergangenen Jahres ließ er das Champions-League-Spiel zwischen dem AS Rom und Dynamo Kiew abbrechen. Er wurde in der Halbzeitpause beim Gang in die Kabine von einem Feuerzeug am Kopf getroffen und musste wegen einer blutenden Platzwunde ärztlich behandelt werden. Nach einer knappen Stunde entschied er, das Match nicht wieder anzupfeifen.

Sein Rücktritt war kein unüberlegter Schritt: »Es ist mit jedem Tag weiter eskaliert. Ich bin Dingen ausgesetzt worden, die für mich früher unvorstellbar waren. Jetzt hoffe ich, dass diese Leute damit aufhören, wenn sie wissen, dass ich nicht mehr pfeife.«

Die Reaktionen seiner Kollegen zeigten, dass es die meisten Schiedsrichter offenbar gründlich satt haben, von Trainern, Spielern, Fans und Funktionären Spieltag für Spieltag beleidigt und attackiert zu werden. Volker Roth etwa, Vorsitzender der Schiedsrichter-Kommission der Europäischen Fußball-Union, kündigte bislang noch nie dagewesene Maßnahmen an: »Wir können nicht tatenlos zusehen. Es wird unter den Schiedsrichtern eine Solidarisierung stattfinden, wie man sie noch nicht gesehen hat. Ich bin wirklich kein Freund von Streiks, aber wir werden uns Maßnahmen überlegen müssen.« Das nicht sanktionierte Verhalten des Chelsea-Trainers sei grob unsportlich gewesen. »Leute wie Mourinho sind Feinde des Fußballs. Auch bei uns hetzen Trainer die Fans auf.«

Frisk habe »das richtige Zeichen gesetzt«, sagte der ehemalige schweizerische Fifa-Schiedsrichter Urs Meier in einem Interview mit der Welt. Auch er sei während seiner internationalen Tätigkeit mehrfach bedroht worden, nun sei die Situation aber eskaliert: »Bisher ist es im Spitzenbereich nur bei Morddrohungen geblieben, bei Frisk übrigens – anders als bei mir – gegen die gesamte Familie. Irgendwann gibt es einen Toten.«

Die die Fans aufhetzenden Schiedsrichterbeleidigungen und -beschuldigungen müssten hohe Geldbußen zur Folge haben, forderte Meier. »Es geht nur über harte Strafen.« In Italien, wo dies bereits praktiziert werde, habe man durchaus schon Erfolge erzielt: »Da beißen sich Spieler und Trainer lieber auf die Zunge, als dass sie den Schiedsrichter öffentlich kritisieren. Denn das kann bis zu 60 000 Euro Strafe kosten.«

Nach Frisks Rücktritt zeigte sich, dass auch andere Schiedsrichter unter dem Terror der Fans litten, sich bisher jedoch anscheinend nur nicht trauten, Bedrohungen zu thematisieren. Der Franzose Bertrand Layec gestand zum Beispiel kurz nach Frisks Äußerungen, dass er dessen Beweggründe »sehr gut verstehen« könne. »Auch ich wurde nach einem Ligaspiel telefonisch bedroht, genau wie meine Familie«, sagte er. »Wenn der schwedische Kollege das Thema nicht öffentlich gemacht hätte, würde ich wohl weiter geschwiegen haben.«

Die Vorstellung, dass die Schiedsrichter in ganz Europa mit einem Streik den Spielbetrieb gleich aller Ligen verhindern könnten, muss für die Funktionäre eine Horrorvision sein. Plötzlich überlegen sie, wie man die Männer in Schwarz besser schützen könne. Der Vorsitzende der Uefa, Lennart Johansson, etwa unterstützte Frisk in einem Interview mit dem schwedischen Sportsradioen. Es müsse härter gegen Trainer und Spieler durchgegriffen werden, die bei Heimspielen gewohnheitsmäßig ihr Publikum aufhetzten, sagte er. »Geldstrafen sind dabei ganz sicher kein taugliches Mittel, denn wenn die Vereine etwas genug haben, dann ist es sicher Geld.« Längere Sperren könnten als Sanktionen weit besser wirken.

Dass eine Fehlentscheidung Frisks zur Eskalation geführt habe, stehe zwar fest, sei jedoch kein Grund, den Referee zu bedrohen, sagte Johansson weiter. »Anders Frisk gehört zu den besten fünf Schiedsrichtern der Welt, er ist einer dieser mittlerweile sehr seltenen Typen, die sich beim Pfeifen absolut auf ihre eigenen Erfahrungen verlassen – und sich nicht darum kümmern, was die Zuschauer denken. Fehlurteile können wirklich jedem unterlaufen!«

Auf die Idee, den Job der Referees durch die Zulassung des Videobeweises wesentlich zu erleichtern, kam Johansson jedoch nicht. Spieltag für Spieltag müssen sich schließlich Fans, die in irgendeinem Stadion noch angesichts einer angeblichen Fehlentscheidung mit Gewalt wenigstens gegen das Auto des Unparteiischen gedroht hatten, nach der »Sportschau« oder dem »Aktuellen Sportstudio« kleinlich eingestehen, dass sie Unrecht hatten.

Die Situation der Schiedsrichter, die in den unterklassigen Ligen pfeifen, würde der Videobeweis jedoch auch nicht verbessern. Angriffe auf den Referee gehören dort zum Alltag, der Schiedsrichterjob wird deswegen immer unattraktiver. Wie die Tageszeitung Svenska Dagbladet kurz nach dem Rücktritt von Frisk berichtete, hat sich zum Beispiel die Zahl der schwedischen Unparteiischen im Vergleich zum Jahr 1996 auf knapp die Hälfte dezimiert. Grund seien vor allem übereifrige, ehrgeizige Eltern, erläuterte Obmann Bengt Augustsson, der seit 1980 in der Aus- und Weiterbildung von Schiedsrichtern arbeitet. »50 Prozent der Referees, die wir heranziehen, werden von ihnen verschreckt«, beklagte er. »Es ist immer wichtiger geworden zu gewinnen, deswegen nehmen die Leute Spiele, egal in welcher Liga und in welcher Altersklasse, auch immer ernster. Vor allem die ganz jungen Schiedsrichter, die 15- bis 16Jährigen, verlieren schnell die Lust, wenn sie von ehrgeizigen Vätern und Müttern nach den Matches angeschrien oder attackiert werden.«

Einzig der Fußballverband des Großraums Stockholm habe bislang auf das Referee-Mobbing reagiert und verzeichne seither wieder mehr Interesse am Job des Schiedsrichters. Seit jeder Verein einen ehrenamtlichen Sicherheitsverantwortlichen stellen muss, der gegenüber dem Verband verantwortlich ist, sind die Angriffe auf die Männer in Schwarz spürbar zurückgegangen. Seither gibt dort kaum einer sein Hobby auf.