Rot ist die Heide

Heide Simonis präsentiert sich im Wahlkampf als Landesmutter. Die »soziale Kälte« bekämpft sie lieber mit Wollschals als politisch. von jörg sundermeier

Heide Simonis ist 24 Stunden am Tag Sozialdemokratin. Die Partei ist ein Teil ihrer Identität. Als Edmund Stoiber kürzlich die verfehlte Arbeitsmarktpolitik der Regierung für die Wahlerfolge der NPD verantwortlich machte, brauste sie sofort auf. »Ich bekomme eine Stinkwut, wenn ich diese Sprüche höre«, sagte sie und behauptete, die Geschichte der KPD vollständig ignorierend, dass die SPD einen »riesigen Blutzoll« im Kampf gegen die Nationalsozialisten gezahlt habe, ja, dass sie die »einzige Partei« gewesen sei, die »angesichts der Todesdrohungen noch den Mut« dazu gehabt habe. Dass es aus den Reihen der SPD zwar kaum Zustimmung für, doch ebenso wenig Widerstand gegen die Nationalsozialisten gab, erwähnt sie nicht, auch nicht, dass die Sozialdemokraten nach dem Zweiten Weltkrieg gerne ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und Kriegsverbrechern eine neue »politische Heimat« boten.

Warum auch? Heide Simonis interessiert sich nicht für die Wurzeln der Partei, sie engagiert sich für ihr eigenes Fortkommen. Daher, so scheint es, steht sie nicht nur aus parteipolitischen Erwägungen ganz und gar hinter ihrem Kanzler. Als dieser ihre Vorschläge für eine Neuregelung der Erbschaftsteuer ablehnte, nahm sie es lächelnd auf. »Was willst du denn überhaupt mit der Erbschaftsteuer, du hast doch sowieso nichts zu vererben außer deinen ollen Hüten«, habe Schröder geantwortet, verriet sie dem Stern.

Der Großelternhumor, der sich in der saloppen Antwort des Kanzlers verbirgt, imponiert der Trägerin des »Ordens wider den tierischen Ernst« und des Ehrenpreises des »Internationalen Clubs der Schlitzohren«. Denn Heide Simonis, die sich ihrem Wahlvolk als »Heide« andient, liebt es derb und bodenständig. Sie gilt als schlagfertig, etwa wenn sie pfeifenden, aufgewühlten Bauern mit dem Satz entgegentritt: »Meine Herren, eine Dame empfindet Pfiffe gelegentlich als Anerkennung.« Wenn sie Karnevalsreden schwingt: »Was haben Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg gemeinsam? Zunächst mal einen Bindestrich! – Das verbindet!« Wenn sie eine »Stinkwut« empfindet, »verdattert« ist, sich mit »Fieselkram« tröstet.

Dementsprechend fallen ihre Anekdoten aus: »Nie werde ich die Veranstaltung des Bauernverbandes vergessen, bei dem ein älterer Mann auf mich zukam und kopfschüttelnd sagte: ›Eene eenzige Frau regeert dat wunnerschöne Land ganz alleen. Oh ne, dat dörf doch nicht sin!‹ – Is awer so worn!«

Nun ist Simonis, die vor 61 Jahren in Bonn geboren wurde, alles andere als ein bauernschlaues Dorfkind. Sie wuchs in einem Angestelltenhaushalt auf, studierte Volkswirtschaft in Kiel, arbeitete einige Zeit in Sambia und in Japan und trat, obschon sie einem konservativen Elternhaus entstammt, im Jahr 1969 der SPD bei. »Auch ich gehöre zu denen, die ihren Weg zur Sozialdemokratie durch Willy Brandt gefunden haben!« bekennt sie. Im Jahr 1972 wurde sie Mitglied im Rat der Stadt Kiel und schaffte es bereits vier Jahre später, in einem traditionell der CDU zufallenden Wahlkreis, in Rendsburg-Eckernförde, ein Direktmandat für den Bundestag zu erringen. Mitglied des Bundestags war sie bis 1988, dann kehrte sie als Finanzministerin des Kabinetts Engholm nach Kiel zurück. Als Björn Engholm 1993 zurücktreten musste, wurde Simonis die erste Ministerpräsidentin der Bundesrepublik.

Schon vorher war sie oft die »einzige Frau« gewesen, hatte sich in der Männerdomäne Finanzpolitik bewährt und bereits Anfang der achtziger Jahre durch »flotte« Sprüche auf sich aufmerksam gemacht. Die »Vollblutpolitikerin«, wie sie sich selbst nennt, begreift sich als Feministin, nicht ohne Stolz bekennt sie, dass »bei uns mehr Lippenstifte als Bärte am Kabinettstisch« vertreten seien.

Ihre Aufmerksamkeit für Frauenfragen beweist sie desgleichen in ihrer Autobiographie »Unter Männern«, die im Jahr 2003 erschien. So weiß sie sehr wohl, dass der Nationalsozialismus für »moderne Frauen« vorderhand eine emanzipatorische Perspektive bot. Über ihre Mutter schreibt sie: »Sie wuchs sehr verwöhnt heran, doch erlaubten ihr die Eltern nahezu gar nichts. Der Nationalsozialismus gefiel ihr daher zunächst nicht schlecht, denn er brachte ihr viele neue Freiheiten. Auf einmal durfte sie zum Sport, zum Rudern; sie durfte mit auf Zeltfahrten gehen und fand das herrlich, und endlich konnte sie auch an Bällen der Studentenverbindungen teilnehmen. (…) Für sie war das etwas sehr Erstrebenswertes, sie sehnte sich nach einem sozialen Aufstieg.«

Der soziale Aufstieg ist der Tochter gelungen, und früh engagierte sie sich für die Sache der Frauen. Seit Heide Simonis jedoch Ministerpräsidentin ist, lässt sie vor allem Lippenbekenntnisse verlauten: »Der Frauenbewegung kommen ohne Zweifel große Verdienste zu. Der Feminismus hat die Öffentlichkeit wach gerüttelt, und auch die Selbsterfahrungsgruppen haben eine wichtige Bedeutung für den allgemeinen Bewusstseinswandel gehabt. Die wachsende Sensibilität kam später den Frauen zugute, die in den politischen Parteien und Institutionen arbeiteten. Ohne die Frauenbewegung hätte es zum Beispiel die Quote nicht gegeben – eine politische Forderung, die ich anfangs für überflüssig hielt, deren Notwendigkeit mir mit zunehmender Erfahrung aber immer einsichtiger wurde. Allerdings wollte ich selbst nie eine Quotenfrau sein, sondern mich als Individuum durchsetzen.« Daher beeindruckte es sie, dass der an Emanzipationsfragen gemeinhin desinteressierte Kanzler im Wahlkampf »mit Kindern und Frau hier rauf nach Kiel« gekommen sei. Dieweil seine Gattin mit Simonis öffentlich plauderte, habe er »im Hotel seine Töchter gehütet, vor allem die Kleine, die man noch nicht mit Fremden allein lassen kann.« Dass allerdings die Kanzlergattin mit Simonis reden sollte, nicht Schröder, das irritiert sie nicht.

In allen anderen politischen Fragen gibt sie sich ebenfalls als eine Art westdeutsche Regine Hildebrandt, als eine Individualistin, als eine Kesse. Mit ihrer »Unverblümtheit« kaschiert sie, dass sie nichts anderes macht als das, was der politische Pragmatismus von ihr verlangt: Sie ist ebenso für den Ausbau des Flughafens bei Kiel wie für das Konzept »Einheitsschule«, gegen die hohe Arbeitslosigkeit und den defizitären Landeshaushalt allerdings weiß sie wenig zu unternehmen.

Sie bedauert die Armen. Doch »HE!DE«, wie sie auf den Wahlplakaten heißt, führt wacker einen »amerikanisierten« (Simonis) Wahlkampf, ganz auf die »Landesmutter« zugeschnitten, mit Shows und Menschlichkeit. Sie präsentiert sich als leidenschaftliche Flohmarktbesucherin, als Kaffeekannensammlerin, sie sagt, ihr Hobby sei das »Quilten«, eine gerade zur Mode werdende Nähtechnik der US-amerikanischen Siedler. Für Fans gibt es auf ihrer Website den »Heide-Schal!«, der unter anderem ein Zeichen »gegen soziale Kälte« sei. Daneben ist selbstredend immer wieder von ihren Hüten und ihrem Schmuck die Rede. Das alles hat mit Politik nichts zu tun, kommt aber gut an.

In ihrem Kabinett und in der Partei gilt die Volkswirtin als sehr selbstbewusst. Doch das öffentliche Bild, mit dem sie in diesen Wahlkampf zieht, ist das der mütterlichen Frau, wenn auch einer mit Spleen. Das ist nicht die Person Heide Simonis, das ist ihre Rolle. Sie nimmt sie an.