Europäische Komplizenschaft
Am 4. September 1498 erklärte der Reichstag von Freiburg die »Zigeuner« für vogelfrei. Jedermann konnte sie fortan ungestraft töten: »Wann yemants mit der tate gegen inen zu handeln fürnemen würde, der soll darin nit gefrevelt noch unrecht getan haben.« Begründet wurde diese in der europäischen Geschichte beispiellose Vogelfreierklärung einer ganzen Bevölkerungsgruppe mit dem völlig unbegründeten Verdacht der Spionage zugunsten der Türken: Dass die, »so sich ziegeiner nennen, usspeer und verkundschafter der christen land seyen«. Zu »Ausspähern der Christenheit« wurden die Sinti und Roma in einem anderen Sinne. Mussten sie doch »auskundschaften« und erfahren, wie intolerant dieses christliche Europa tatsächlich war und immer noch ist. Seit nunmehr über 500 Jahren werden die Sinti und Roma in Europa diskriminiert und verfolgt. Ein europäisches Bekenntnis zu dieser Schuld und historischen Verantwortung steht immer noch aus.
Unmittelbar nach der Vogelfreierklärung kam es im gesamten »Heiligen Römischen Reich deutscher Nation« zu Verfolgungen der Sinti und Roma. Doch nicht nur hier im Gebiet des heutigen Mitteleuropa. Auch in West- und Osteuropa. In Spanien wurde der bereits verkündete Plan zur Vertreibung der Roma zwar wieder rückgängig gemacht, doch nur deshalb, weil man nach der Vertreibung der Araber und Juden Arbeitssklaven brauchte. Versklavt wurden die Juden auch in Osteuropa. In Rumänien wurde die »Zigeunersklaverei« erst im Jahr 1856 aufgehoben. In Russland blieben die sesshaften Roma genau wie die übrigen Bauern bis 1861 Leibeigene. In Ländern wie Dänemark wurden Roma erst gar nicht ins Land gelassen.
Diese Diskriminierungen und Verfolgungen wurden keineswegs nur mit politischen Motiven wie dem Spionagevorwurf und der sozialen Stigmatisierung der Roma als »Zigeuner«, d.h. »Zieh-Gauner«, sondern auch mit christlichen Vorurteilen begründet. Obwohl die Sinti und Roma seit ihrer Ankunft in Europa Christen waren, wurden sie in den Chroniken als »schlechte Christen« tituliert und in Verbindung zu der verketzerten Sekte der »Athingangen« gebracht, von der vermutlich die Fremdbezeichnung »Zigeuner« stammt.
Ferner wurde den Sinti und Roma vorgeworfen, dass sie zwar nicht wie die Juden für die Kreuzigung Christi, wohl aber für seine Pein verantwortlich seien. Habe doch ein »Zigeuner« die Nägel für das Kreuz Christi geschmiedet. Außerdem hätten die »Zigeuner« die Heilige Familie auf ihrer Flucht nach Ägypten (um dem Herodesschen Kindermord zu entgehen) nicht beherbergt. Schließlich wurden die Sinti und Roma ähnlich wie die Juden verteufelt. Anlass war ihr angeblich dunkles Aussehen, das sie mit dem ebenfalls schwarz imaginierten Teufel gemein hätten, von dem sie auch ihre magischen Fähigkeiten gelernt hätten.
Die Aufklärung räumte dann mit diesen religiösen Vorurteilen auf, um sie jedoch durch neue rassistische zu ergänzen. Aufklärerische Historiker wie Heinrich Moritz Grellmann verneinten am Ende des 18. Jahrhunderts die noch von Christian Wilhelm von Dohm bejahte Frage nach der »bürgerlichen Verbesserung« der »Zigeuner«, weil es sich um ein »orientalisches Volk« mit einer »orientalischen« und eben nicht zu verbessernden »Denkungsart« handele. Den Einwand, wonach die Sinti und Roma, weil aus Indien stammend, doch eigentlich »Arier« seien, wies Grellmann mit dem Argument zurück, dass die »Zigeuner« »primitive Arier« seien, weil sie von ebenso »primitiven« indischen Völkern abstammten. Spätere »Zigeunerforscher« erweiterten diese rassistische Argumentation mit der Behauptung, dass die »Zigeunermischlinge« besonders »minderwertig« seien, weil sie neben ihrem »zigeunerischen« auch noch das Blut von »Asozialen« und »Kriminellen« in ihren Adern hätten.
Der Antiziganismus hat daher eine sowohl rassenanthropologische wie sozialrassistische Komponente. Dieser »doppelte Rassismus« prägte die deutsche und europäische »Zigeunerpolitik« des 19. und auch noch des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Roma wurden niemals und nirgendwo emanzipiert, sondern gnadenlos von einem Land in das andere ausgewiesen. Nur diejenigen, die über staatsbürgerliche Bescheinigungen verfügten, weil sie wie etwa in Deutschland der allgemeinen Wehrpflicht nachgekommen waren, wurden im Lande toleriert, aber weiterhin aus rassistischen Gründen diskriminiert.
Schon deshalb war ihre Verfolgung in der NS-Zeit die logische Folge. Hinzu kam, dass die nationalsozialistischen Rassengesetze auch auf die Sinti und Roma angewandt wurden, weil sie, wie es im Kommentar von Stuckart und Globke hieß, wie die Juden und »Neger« »Träger nichtdeutschen Blutes« seien. Die von Heinrich Himmler bereits am 8. Dezember 1938 offen angekündigte »endgültige Lösung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus« war daher selbstverständlich eine rassistische.
Auf den weiteren Verlauf der »endgültigen Lösung der Zigeunerfrage« kann hier nicht näher eingegangen werden. Im europäischen Kontext wichtig und erwähnenswert ist, dass der Rassenmord an den Sinti und Roma, der in ihrer Sprache, dem Romanes, als »Porrajmos« (das Verschlungene) bezeichnet wird, in ganz Europa bekannt war, aber nirgendwo irgendwelche Proteste hervorgerufen hat. Dieses Schweigen kann man nur als Zustimmung deuten. Alle Länder schlossen ihre Grenzen vor den fliehenden Sinti und Roma.
Einige der mit Deutschland verbündeten Staaten haben sich aktiv am Völkermord beteiligt, so Kroatien, Rumänien und Ungarn. Auch das faschistische Italien »löste« seine »Zigeunerfrage« durch Deportation. Im noch unbesetzten Frankreich wurden Sinti und Roma in »Zigeunerlager« verschleppt, aus denen sie erst 1946 wieder befreit wurden.
Ohne die deutsche Schuld schmälern zu wollen, beim Völkermord an den Sinti und Roma gab es eine europäische Komplizenschaft. Sie war ganz offensichtlich auch der Grund, weshalb dieser Völkermord nach 1945 lange Zeit nicht thematisiert wurde. Dadurch kam es auch zu keiner Überwindung der antiziganistischen Vorurteile. Nach den letzten Umfragen sind zwischen 64 (Allensbach) und 68 Prozent (Emnid) der Deutschen heute antiziganistisch eingestellt. In den übrigen europäischen Ländern ist es nicht besser, teilweise sogar noch schlechter. In einigen osteuropäischen Staaten ist es sogar zu Verfolgungen gekommen.
Wie reagieren die Roma darauf? Viele mit Apathie. Doch einige fordern ihr Recht ein: die Anerkennung des Völkermordes und ein Recht auf »Wiedergutmachung«; ein Recht auf ein freies und nicht diskriminiertes Leben und das Recht auf Repräsentanz im nationalen und europäischen Rahmen. In Staaten wie Deutschland und Österreich sind die Sinti und Roma als nationale Minderheit anerkannt. Doch dies ist einigen Repräsentanten der Roma zu wenig. Sie wollen die Anerkennung ihrer sprachlichen und kulturellen Identität als Roma. Kommt es zu einem Nationsbildungsprozess der mindestens zehn Millionen europäischen Roma? Wenn ja, dann hat Europa neben der alten Schuld ein neues Problem.
Wolfgang Wippermann ist Professor für Neue Geschichte an der Freien Universität Berlin mit den Schwerpunkten Faschismus, Antisemitismus, Antiziganismus.