Besichtigung der Parallelgesellschaften

Das Festival »Europe in Motion« zeigt Filme, die sich mit Migration, Urbanität und Mobilität beschäftigen. von wanja saatkamp

Zuschreibungen mit ethnisierendem Unterton bestimmen seit längerem den Diskurs um Darstellungen von Filmen aus migrantisch geprägten Kontexten. »Black British Cinema« oder »türkisch-deutsches Kino« beispielsweise sind geläufige Begrifflichkeiten, die FilmemacherInnen und ihre Werke auf eine bestimmte Herkunft reduzieren. Damit wird ein Authentizitäts- und Exotismusbedürfnis bedient, das für die unterschiedlichen filmästhetischen Formen, Produktionsbedingungen und Erzählweisen blind macht.

Das Filmfest »Europe in Motion«, das zwischen dem 10. und 16. Dezember 2004 in Berlin stattfindet, möchte solche Zuschreibungen unterlaufen. Es zeigt Filme über Migration und Mobilität, Ausgrenzung und Entgrenzung in Europa. Fokussiert wird dabei auf ein Kino der Metropolen London, Istanbul, Berlin und Belgrad, Orte also, die durch Migration besonders stark gekennzeichnet sind.

»Diese Filme behandeln die reale Situation von Menschen, die in Europa leben und aus einem migrantischen Kontext stammen, oftmals auf eine viel differenziertere und sensiblere Art, als das in akademischen oder politischen Diskursen der Fall ist«, sagt Hanna Keller, Mitorganisatorin des Festivals. Die Auswahl der Filme basiert nicht auf einer zugeschriebenen oder tatsächlichen kulturellen Identität der FilmemacherInnen, sondern setzt auf die prägnante filmische Auseinandersetzung mit Aspekten migrantischen Lebens. Neben zahlreichen Dokumentationen stehen aufwendige Spielfilme wie beispielsweise »Am Rande der Stadt« des griechischen Regisseurs Constantinos Giannaris, der das Leben junger russischer Stricher am Stadtrand von Athen zeigt. Es ist ein farbenreicher Film, dessen Stil zwischen betonter Künstlichkeit und dokumentarischen Interview-Ausschnitten pendelt und perfekt mit der glamourösen Selbstinszenierung der jungen männlichen Prostituierten korrespondiert.

Daneben sind Low-Budget-Filme wie »The Plague« zu sehen. Der semidokumentarische Film des Briten Greg Hall porträtiert vier Männer aus einem Londoner Sozialbauviertel, deren Leben durch Parties, Drogen und Konflikte untereinander und mit der Polizei bestimmt wird. Mit Handkamera und Laiendarstellern schafft Hall eine Art Innenansicht dieses Milieus ohne besondere Rücksicht auf filmische Konventionen.

Ungefähr die Hälfte des Programms machen Dokumentarfilme aus, die unter völlig unterschiedlichen Produktionsbedingungen entstanden sind. In den Schwerpunktländern sind sowohl Filmförderung, Zugang zu Sendeplätzen als auch Zuschauerzahlen sehr unterschiedlich geregelt. Während in Deutschland das Interesse an Filmen über Migrationsthematiken gerade erst richtig erwacht ist, sind diese Sujets in Großbritannien schon seit längerem etabliert. Auf diese Weise kann den lange dominierenden Fremdrepräsentationen und dem Betroffenheitskino eine differenzierte Sicht gegenübergestellt werden. In der Türkei sind Independent-Produktionen erst seit den neunziger Jahren aufgekommen, die eine Thematisierung von Migration überhaupt erst möglich gemacht haben. Filme über Belgrad und im weiteren Sinne den Balkan schließlich werden oft von anderen Ländern produziert, wie etwa Goran Rebies Roadmovie »Donau, Dunaj«.

Sehr aktuell reagieren einige Filme auf die Repression gegen Angehörige muslimischer Communities in Europa. Der Film »Yasmin« des schottischen Regisseurs Kenny Glenaan liefert eine solche differenzierte Geschichte. Er ist das Porträt der gleichnamigen Protagonistin, deren Leben durch die Ereignisse und Folgen des 11. September eine dramatische Veränderung erfährt. Sie ist Angehörige einer pakistanischen Community und hat durch die Heirat mit einem Freund der Familie diesem die Einbürgerung in England ermöglicht – keine Zwangsheirat, sie unterwandert die britischen Einbürgerungsgesetze. Auf der Landstraße tauscht sie ihre traditionelle Kleidung gegen Jeans, Shirt und hochhackige Schuhe, um kurz darauf mit lauter Musik in ihrem roten Golf Cabrio zur Arbeit zu fahren. Durch ihre Arbeits- und sozialen Beziehungen ist sie selbstverständlich Angehörige der britischen Mehrheitsgesellschaft. Yasmins selbstbewusster Umgang mit vermeintlich polarisierenden Lebenswelten verschmilzt Widersprüche zu einer individuellen Lebensweise und dekonstruiert so den Mythos des »Verlorenseins zwischen den Kulturen«.

Die Ereignisse des 11. September strukturieren die Handlung des Films; staatliche und gesellschaftliche Repression bestimmen nun ihren Alltag und gefährden sowohl das Zusammenleben in ihrer Familie als auch ihren Job und Freundschaften. Stereotype Vorstellungen von Geschlechterrollen werden in diesem Film ebenso wie kulturalistische Stigmatisierungen unterlaufen. Die britische Mehrheitsgesellschaft ist nicht fähig, Yasmin als eigenständiges Subjekt wahrzunehmen und gegenüber den medial gestützten Hetzkampagnen gegen muslimische Minderheiten zu verteidigen.

Die Abschottung Europas gegenüber Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens versuchen, nach Europa zu kommen, oder MigrantInnen, die als Illegalisierte hier leben, sind ein weiterer Aspekt von »Europe in Motion«. Der Dokumentarfilm »Calais« konfrontiert das Publikum mit der Situation von Flüchtlingen in der französischen Hafenstadt, die versuchen, durch den Kanaltunnel nach England zu gelangen. Analog dazu werden die Versuche einiger Briten dokumentiert, die in Calais eine Existenz aufbauen wollen.

Auch Stephen Frears, der bereits in den achtziger Jahren mit »Mein wunderbarer Waschsalon« ein Plädoyer gegen Rassismus und Homophobie schuf, zeigt in »Dirty Pretty Things«, wie die Zunahme von Armut und Reichtum einander bedingen. »Dirty Pretty Things« erzählt von Okwe, der nachts als Hotelportier und tagsüber als Taxifahrer arbeitet, und zeigt die Parallelwelt der Illegalisierten in London. Okwe bringt das Verhältnis zu seiner Kundschaft auf den Punkt: »We are the ones to drive your cabs, cook your meals and suck your dicks.«

Den Kontrapunkt zu gesellschaftlicher und staatlicher Unterdrückung setzen etliche Filme, in denen die Rolle des HipHop als identitätsstiftende Praktik marginalisierter Jugendlicher deutlich wird. Der Musikstil ermöglicht den ProtagonistInnen offenbar kultur- und grenzübergreifende Interaktion, die ein sinnvolles, aber auch widersprüchliches soziales Bezugsfeld eröffnet. Beispielhaft ist die Figur der »Danger« in dem Spielfilm »Urban Guerillas« des Berliners Neco Celik. Danger ist eine Sprayerin, die aus Angst, ihren besten Freund zu verlieren, vorgibt, ein Junge zu sein. Dieser Rollentausch lässt sie mit den geschlechtsabhängigen Zuschreibungen in Konflikt geraten. Oder die Zweifel der Hauptfigur »Rage« im gleichnamigen Film des Briten Newton Aduaka an seiner Zugehörigkeit zur Londoner HipHop-Szene, in der er als »Nigger« gesehen wird. Am positivsten wirkt die Subkultur in dem Dokumentarfilm »Belgrad Backspin«, der von Deutschland nach Belgrad abgeschobene Jugendliche porträtiert. Da sie weder die Sprache beherrschen noch das Land kennen, stellt Breakdance für sie ein Kommunikationsmittel zwischen alter und neuer Umgebung dar.

Das Festival zeigt eine beeindruckende Bandbreite an Filmen, in denen sowohl die Schwierigkeiten als auch die erfolgreichen Aneignungspraktiken von MigrantInnen in Europa gezeigt werden. Europa, scheint es, wird nicht zuletzt durch die Mobilität seiner unerwünschten Bewohner zu einem zusammenhängenden Raum – allerdings ein Raum, der teilweise konträr zu den Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaften strukturiert ist.

www.europeinmotion.net