Nix wie weg!

Die Gründe, warum Menschen aus Ostdeutschland in den Westen fliehen, sind dieselben wie vor dem Mauerfall. Ein Plädoyer für die Reisefreiheit von ivo bozic
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Sogar von einer drohenden Versteppung Brandenburgs ist schon die Rede. Und nicht nur wegen des Klimawandels. Nein, in den entsiedelten Gegenden wird keine Landwirtschaft mehr betrieben, und so werden sie langsam zu Brachland. »Blühende Landschaften« versprach einst Kanzler Kohl, Walt Disney hat dasselbe Phänomen mit »Die Wüste lebt« besser umschrieben. Alarmstimmung überall. Ob Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen: Jugendliche machen die Fliege, sobald sie können, Betriebe schließen, Äcker vertrocknen, Geschäfte öffnen nicht mehr, Zugverbindungen werden eingestellt, halbe Städte stehen leer. Ostdeutschland scheint komplett verreist zu sein, da brauchen Sie nicht klingeln, keiner da, der Strom ist abgestellt, aus dem Briefkasten quellen Werbeprospekte, die liest niemand mehr.

Und dabei ist doch Ostdeutschland so schön! Wirklich! Die Sächsische Schweiz, die Mecklenburgische Seenplatte, die Ostseeküste, Rügen, Dresden, die Uckermark, der Spreewald – wirklich sehr schön das alles! Da kann sich der Westen echt ’ne Scheibe von abschneiden. Und das tut er ja auch, wirtschaftlich. Doch offenbar scheint all diese Schönheit die Menschen nicht wirklich zu binden.

Landflucht ist keine ostspezifische Erscheinung. Auch im Westen und überall auf der Welt fliehen junge Menschen aus den kleinen autoritären und langweiligen Dorfstrukturen, aus denen sie stammen, in die Freiheit der Großstädte. Nur: Im Osten gibt es keine Großstädte. Wer aus einem ostdeutschen Dorf in die Stadt ziehen will, der zieht nach Berlin. Ansonsten bieten höchstens noch Leipzig, und schon mit Abstand dahinter Dresden und Rostock überhaupt so etwas wie ein urbanes, kosmopolitisches Stadtfeeling. Das Schicksal einiger anderer größerer Städte, die es zu DDR-Zeiten noch gab, wie z.B. Schwedt oder Suhl, war vollständig an die planmäßig angesiedelte Industrie geknüpft. Nach deren Abwicklung blieben dort leere Plattenbauten und soziale Finsternis.

Es ist schon verrückt: Jahrzehntelang wurde im Westen jeder DDR-Flüchtling bejubelt. Wer es im Kofferraum oder per Tunnel, mit einem Heißluftballon oder Schlauchboot schaffte, die BRD zu erreichen, war ein Held. Jeder auf der Flucht erschossene DDR-Bürger wurde zum Märtyrer stilisiert. Und nun? Nun hat man bei so manchen vor allem ostdeutschen Kommentatoren aus Politik und Wirtschaft den Eindruck, als würden sie sich am liebsten selbst mit dem Maschinengewehr an der ehemaligen Grenze postieren und die Ostler am Rübermachen hindern. Wäre es nicht so unpopulär, hätten Manfred Stolpe oder Matthias Platzeck schon längst ein Ausreiseverbot verhängt.

Dabei sind die Gründe für die Flucht gen Westen im Großen und Ganzen dieselben geblieben. Vom Westen verspricht man sich, nicht zu Unrecht, einen besseren Lebensstandard, das dürfte der Hauptgrund sein. Aber auch die kulturelle Ödnis in den meisten ostdeutschen Regionen, die teilweise immer noch reichlich autoritär geprägte Gesellschaft und der spießige Alltag sind Gründe. Die aktuelle Sparwelle führt dazu, dass die Zahl sozialer und kultureller Einrichtungen eher noch abnimmt. Als Ausreisemotiv neu dazugekommen ist vor allem die rechtsextreme Vorherrschaft in vielen Schulen und Jugendclubs und auf der Straße. Warum sollte man sich das als linker Jugendlicher oder als von rassistischen Übergriffen betroffener Mensch länger als nötig antun?

All das spielt im öffentlichen Diskurs kaum eine Rolle. Ausschließlich die fehlenden Ausbildungs- und Arbeitsplätze werden für die Abwanderung verantwortlich gemacht. Da sind sich Thinktanks, »Zukunftswerkstätten« und »Expertenrunden«, die sich im Osten quasi rund um die Uhr mit dem Problem beschäftigen, einig. »Unser Land wird niemanden am Wandern hindern können, solange die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Mecklenburg-Vorpommern nicht jedem einen angemessenen Ausbildungs- und Arbeitsplatz ermöglichen«, sagt etwa Volker Jennerjahn von der Organisation »mv4you«, die von der Landesregierung in Schwerin ins Leben gerufen wurde, um Initiativen gegen die Abwanderung zu entwickeln.

Ja, sicher. Natürlich sind fehlende Ausbildungs- und Arbeitsplätze oft ein Motiv für einen Umzug. Doch sooo reizvoll ist ein Job im Osten nun auch nicht, wenn man nur 67 Prozent des Westlohns bekommt. Als ob die Leute einfach nur Arbeit wollten! Geld wollen sie! Wohlstand! Den versprechen sie sich vom Westen, und das war auch schon zu DDR-Zeiten so. Dass Arbeit und Wohlstand in einem direkten Verhältnis stehen, das glaubt zu Recht eh keiner, schon gar nicht im marxistisch geschulten Osten.

Dazu kommt die groteske Situation, dass zur selben Zeit, da Politiker die andauernde Republikflucht beklagen, Arbeitsämter und Wirtschaftsbosse die fehlende Flexibilität der Ostdeutschen kritisieren. Die sollen sich doch nicht so anstellen und bitteschön mehr Bereitschaft aufbringen, für einen Job zum Beispiel nach München zu ziehen. Wer sich weigert, wird verhartzt.

Nein, man kann es keinem jungen Menschen verdenken, wenn er die Flucht aus dem todtristen Schwedt, dem Nazinest Wolgast oder einem unzivilisierten Kaff wie Zittau antritt, wo der wichtigste Jugendtreffpunkt die Tankstelle ist. »Haut ab«, möchte man ihnen zurufen, »nehmt die Beine in die Hand, nix wie weg, eure Zukunft liegt woanders!« Für die individuelle Emanzipation, für die persönliche Entwicklung jedes Einzelnen, ist es gut, das Dorf der Eltern, die alte Scholle, den Erbgrund zu verlassen und in die weite Welt hinauszuziehen. Das war schon immer gut, und das ist es in Ostdeutschland auch.

Das Problem ist nicht, dass alle abhauen. Eher schon, dass niemand wiederkommt. Es gibt nichts, außer der schönen Landschaft, was Menschen motivieren könnte, in den Osten zu ziehen. In Görlitz steht jedes zweite Haus in der wunderschönen Altstadt leer. Bis 2015 will man nun 8 000 Wohnungen abreißen. Nicht gerade ein Anreiz, sich dort niederzulassen. Ein entscheidendes Argument, nicht in die neuen Bundesländer zu ziehen, sind natürlich auch die vielen Neonazis und Rassisten. Auch nach 15 Jahren hat sich die Ausländerquote in den neuen Bundesländern nicht wesentlich erhöht.

Doch was soll’s? Warum kümmern wir uns um solche Dinge? Warum empören wir uns, dass Ostdeutschland menschenleer wird? Was gibt es gegen ein großes wunderschönes Naturreservat zwischen Harz und Oder einzuwenden? Angesichts der Ölpreise wäre ein riesiger Windpark von Stralsund bis Weimar mit lauter großen Propellermästen eine Investition in die Zukunft. Doch dazu wird es nicht kommen, denn es stimmt ja nicht, dass alle den Osten verlassen, dass er menschenleer wird: Die Nazis bleiben. Und die sitzen da, wo es besonders nett ist. Im Elbsandsteingebirge, auf Usedom. Soll man denen die ganze Landschaft überlassen? Ausgerechnet jene Gegend, die einmal so etwas wie Sozialismus darstellen sollte, ausgerechnet jenen Teil Deutschlands, in dem eine sozialistische Partei die zweitstärkste Kraft ist?

Nein. Abfinden mit dieser Entwicklung kann man sich trotz allem nicht. Es geht nicht darum, einen Standort zu retten, und es hilft nicht, weiter an die Jugend zu appellieren, hier zu bleiben. Alle Ansätze, die davon ausgehen, dass allein die Bereitstellung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen eine Lösung darstellen würde, weisen ins Leere. Wer »dem Osten helfen« will, muss die gesellschaftliche Komponente des Problems erkennen. Statt in Panik zu verfallen, sollten wir lieber die Reisefreiheit der Ostler verteidigen.