Beitritt und Beischlaf

Türkei: Fremdgehen bleibt legal von deniz yücel

Die Türkei ist ein merkwürdiges Land. Da reden seit Jahr und Tag fast alle politischen und sozialen Kräfte von einem EU-Beitritt, um kurz vor dem wichtigsten Termin in der fast 50jährigen türkisch-europäischen Beziehungskiste ein Scheitern zu riskieren. Und das wegen der skurrilen Frage, ob eheliche Seitensprünge mit Knast bestraft werden sollen.

Dabei waren es zuletzt die regierenden Softcore-Islamisten von der AKP selbst, die einen EU-Beitritt forciert haben. Sie erhoffen sich davon eine Schwächung der mächtigen Generäle. Dem säkularen Establishment, auch dem Militär, wiederum gilt eine EU-Mitgliedschaft als adäquater Ausdruck seines westlichen Selbstverständnisses; das Kapital erwartet wirtschaftliche Vorteile; linke, liberale und kurdische Kreise versprechen sich eine Demokratisierung. Und ein relevanter Teil der Bevölkerung verbindet mit dem Beitritt vor allem eine Frage: »Können wir dann ungehindert nach Europa reisen und dort arbeiten?«

Das werden sie nicht. Wie von Anfang an absehbar, dürfte die EU-Kommission vorschlagen, die Einreisebeschränkungen auf Dauer festzuschreiben. Klar ist auch, dass die Türkei von den üblichen EU-Transferzahlungen allenfalls einen Bruchteil bekommen wird. Die türkischen Hoffnungen könnten sich bald als ebenso trügerisch erweisen wie die Zollunion. 1996 hatte sich die Türkei als erstes und einziges Land eine Zollunion mit der EU andrehen lassen, ohne ihr als Mitglied anzugehören. Profitiert haben davon nur die EU-Staaten.

Es scheint, als ahne man in der Türkei, dass eine Vollmitgliedschaft weder alle Probleme lösen wird, noch dass man, wie viele insgeheim glauben, der EU beitreten, ansonsten aber alles beim Alten belassen kann. Vielleicht war es diese Ahnung, weshalb die AKP mit der Posse um den Ehebruch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gefährdet hat. Und weshalb die Militärs, die sonst alle naselang vor einer Gefährdung der laizistischen Ordnung warnen, in dieser Sache nichts zu sagen wussten. Ähnliche Kapriolen dürfte Ankara noch oft liefern.

Allerdings besteht kein Anlass, die ins Gespräch gebrachte Kriminalisierung von Ehebruch als Beleg für eine generelle Unvereinbarkeit der Türkei mit der EU zu werten und notabene »Europa« zum Sinnbild für Aufklärung und Liberalität schlechthin zu erklären. Am fundamentalistischen Abtreibungsrecht in Irland stört sich auch niemand. Das gravierende, mitunter lebensbedrohliche Problem für viele türkische Frauen sind ohnehin nicht gesetzliche Regelungen, sondern die weit verbreiteten, archaisch-sexistischen Vorstellungen (Jungle World, Nr. 37/04). Erst letzte Woche berichteten türkische Medien von einer schwangeren Frau, die von ihren Angehörigen wegen unerlaubtem Sex ermordet wurde. Immerhin sollen nach der geplanten Strafrechtsreform »Ehrenmörder« nicht länger mit mildernden Umständen rechnen können.

Neben der Ehebruch-Frage hatte der Vorwurf, dass in der Türkei noch immer systematisch gefoltert werde, einen positiven Ausgang des für Anfang Oktober angekündigten Votums der EU-Kommission gefährdet. Doch die Foltervorwürfe haben sich, meinte EU-Kommissar Günther Verheugen nach seinem Treffen mit Ministerpräsident Recep Erdogan vergangene Woche, als unbegründet erwiesen. Kein Wunder. Zwar beanstandet die türkische Menschenrechtsstiftung nicht zuletzt die Isolationshaft, wenn sie von einer Zunahme von »psychologischen Folterungen« spricht. Aber mit der Abschaffung der Gemeinschaftszellen und der Einführung von Isolationsknästen im Jahr 2000 wollte die Türkei nichts anderes, als sich fit für die EU zu machen. Als Vorbild diente Stammheim. Und das liegt bekanntlich in der EU.