Willkommen in Tatralandia

Nach dem EU-Beitritt hat sich in der Slowakei vieles verändert. Und vieles nicht. Aus dem Dreiländereck Polen-Tschechien-Slowakei berichtet marina mai

Es ist ein heißer Tag, und die Badegäste drängen sich im Aquapark Tatralandia in der slowakischen Stadt Liptovsky Mikulás. Mehrere Becken mit warmem Thermalwasser, das hier aus der Erde fließt, Wasserrutschen und Whirlpools sowie der Blick auf die Berge der Niederen Tatra und der Westtatra locken junge und ältere Badegäste an. Ein Animateur tut alles, um die Badenden bei guter Laune zu halten. Kinder haben zehn Minuten Zeit, um Badetücher einzusammeln, die ihnen die Gäste freiwillig geben sollen. Wer die meisten bekommt, darf ins Mikrofon singen. Danach sollen auch die Eltern auf ihre Kosten kommen. Der Animateur spielt einen alten Titel von Boney M. Das »Schalalalala« sollen die Badenden mitsingen. Nur wenige Menschen auf ihrem Badelaken, in den Thermalbecken oder an den Imbissständen folgen der Aufforderung. Das ist dem Animateur viel zu leise: »Wo sind die polnischen Stimmen?« fragt er. Derart an ihrem Nationalgefühl gepackt, verschaffen sich jetzt viele Polen Gehör: »Schalalalala«. Der Animateur ist noch nicht zufrieden: »Und wo sind die tschechischen Sänger?« Auch jetzt erhält er Resonanz. »Und nun die slowakischen!« fordert er. Zum dritten Mal tönt es von den Becken und Liegewiesen. »Und nun alle drei!« ruft der Moderator. Er ist zufrieden und spielt das ganze Lied. Die Badegäste aus allen drei Ländern singen den Refrain. Ab und zu versucht der Animateur auch, auf Englisch Touristen aus anderen Staaten mit einzubeziehen. Aber von denen gibt es kaum welche im Aquapark Tatralandia.

Liptovsky Mikulás, das städtische Zentrum der Tatraregion, liegt 60 Kilometer von Polen und 125 Kilometer von Tschechien entfernt. Auch ohne Dolmetscher können sich Slowaken, Polen und Tschechen verständigen. Die slawischen Sprachen ähneln einander so sehr, dass ein slowakischer Pensionswirt nur ein paar Höflichkeitsredewendungen in den anderen Sprachen lernen und langsam sprechen muss, um verstanden zu werden. Mit der herrlichen Landschaft und dem aus der Erde strömenden warmen Wasser kann das, wie es in der Selbstdarstellung heißt, »größte Thermalbad der Slowakei« auch aus den Nachbarländern Urlaubs- und Tagesgäste anziehen. Vor allem aus Polen kommen sie.

Ela aus Katowice wollte eigentlich in Russland Urlaub machen. Die 17jährige Gymnasiastin lernt seit sechs Jahren Russisch in der Schule und wollte ihre Sprachkenntnisse endlich einmal praktisch erproben. Doch die Eltern hatten Angst, sie in ein Land zu schicken, über das sie nur im Zusammenhang mit Kriminalität hören. Die Slowakei schien ihnen da sicherer. Die ist schließlich genau wie Polen kürzlich der EU beigetreten, und die Preise sind hier etwas günstiger als in Polen. Ela macht hier eine Woche mit ihrer Schulfreundin Urlaub und gehört zu den jährlich rund 215 000 polnischen Touristen in dem 5,3 Millionen Einwohner zählenden Land. Etwa jeder dritte Tourist ist Tscheche. Die Tschechen kennen das kleine Nachbarland aus der Zeit eines gemeinsamen Staates bis 1992 gut. So mancher tschechische Familienvater will gerne Frau und Kindern zeigen, wo er einst seinen Militärdienst geleistet hat oder sich als Kind im Kinderferienlager erholte.

Polen, die sich größtenteils noch vor zehn Jahren keinen Auslandsurlaub leisten konnten, liegen inzwischen nach den Tschechen auf dem zweiten Platz – noch vor den Deutschen, deren Anteil am Slowakei-Tourismus bei 13 Prozent liegt. Bis Anfang der neunziger Jahre führten die Deutschen diese Tabelle noch an. Allerdings dürfte der wirkliche Anteil der Polen unter den Gästen in der Slowakei noch weit höher sein. So wie Ela bevorzugen viele Polen die nicht registrierten Privatunterkünfte mit Etagendusche und Selbstkochküche und tauchen so in keiner Statistik auf. Während diese preiswerten Privatunterkünfte in der Tatraregion im Sommer ausgebucht sind, haben die Sterne-Hotels mit internationalem Standard meist noch freie Plätze.

Ela fühlt sich in der Slowakei wie zu Hause. In ihrer Pension sind die Polen unter sich. In dem kleinen Gebirgskurort nahe von Liptovsky Mikulás gibt es kaum Urlauber, die nicht aus Polen kommen. »Meine Zimmerwirtin freut sich, dass Polen so viele Einwohner hat«, sagt die Gymnasiastin. »Wenn nur ein Prozent der fast 40 Millionen Polen in der Slowakei Urlaub machen, geht es der Tatraregion richtig gut«, meint sie. Und diese Rechnung geht auf. Wie ihre Landsleute genießt Ela die Landschaft: Die Demänovska-Eishöhle hat sie besichtigt und tags zuvor den 2 023 Meter hohen Chopok erstiegen. Da erholt sie sich nun im Aquapark von den Strapazen.

Neben ihr auf der Liegewiese hat sich eine dreiköpfige Familie aus der slowakischen Hauptstadt Bratislava niedergelassen. Weil Slowaken als besonders ehrlich gelten, hat Ela keine Probleme, ihren Nachbarn ihre Siebensachen anzuvertrauen, wenn sie ins Wasser geht. Für Richard, den Familienvater, ist der Urlaub die einzige Zeit im Jahr, in der er mit seiner Familie zusammenlebt. Sonst kellnert der 30jährige in Wien. »Ich hoffe, in drei oder vier Jahren jeden Abend nach Bratislava fahren zu können und nicht nur am Wochenende«, erzählt er. Schließlich liegen die beiden Hauptstädte nur 65 Kilometer voneinander entfernt. Das ist eine Entfernung, die viele Menschen täglich für ihren Arbeitsweg auf sich nehmen. Doch Richard benötigt drei Stunden für diese Strecke. »Länger als eine Stunde muss ich an der Grenzabfertigung warten«, erbost er sich. Dabei war den Slowaken doch versprochen worden, mit dem EU-Beitritt ihres Landes würden die Zollkontrollen wegfallen und alles schneller gehen.

»Slowakische und österreichische Beamte kontrollieren immer noch getrennt. Darum dauert das so lange.« Und Richard berichtet, dass die Österreicher auch in das Gepäck der Grenzgänger schauen, trotz des gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraumes. Billige slowakische Zigaretten dürfen nach Österreich nur begrenzt eingeführt werden, und die Zöllner schauen nach, ob man nicht zu viele hat. »Das ist einfach Schwachsinn«, findet Richard. Das Preisgefälle zwischen Zigaretten in Österreich und der Slowakei sei nicht mehr so groß, dass seine Wiener Kollegen den Arbeitspendler bitten würden, ihnen die Rauchware mitzubringen. »Umgerechnet lege ich in Bratislava 1,50 Euro für eine Schachtel hin«, sagt er und fügt gleich hinzu, dass das wirklich interessante Preisgefälle jetzt an der Ostgrenze der Slowakei besteht: »An der Grenze zur Ukraine blüht jetzt der Schmuggel.«

Noch etwas anderes ärgert Richard: Österreich hat noch immer keine Autobahn Wien-Bratislava gebaut. Das kleine Teilstück auf slowakischer Seite ist längst fertig. Aber in Österreich muss der Mann Landstraße fahren und steht lange im Stau. Bis vor kurzem hat die Wiener Regierung die östlichen Nachbarn Slowakei und Ungarn eher als Bedrohung gesehen denn als Teil eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes. Erst nach Drängen der österreichischen Wirtschaft, die sich in der nahen Slowakei mit 17 Prozent Arbeitslosigkeit und geringen Lohnkosten gute Bedingungen für ihre Zulieferindustrie erhofft, wurde der Beschluss zum Bau der Autobahn nach Bratislava gefasst. 2006/2007 soll die Piste fertig sein, derzeit läuft die Umweltverträglichkeitsprüfung. Nach Budapest gibt es bereits eine Autobahn.

Hat sich an der slowakisch-österreichischen Grenze mit dem EU-Beitritt für den Grenzgänger Richard auch wenig geändert, so ist der Betrieb an der 550 Kilometer langen Grenze zu Polen um so größer: Polen kommen jetzt nicht nur als Touristen in die landschaftlich schöne Slowakei, sie kommen auch als Kunden in die grenznahen Orte. Der große Nachbar im Norden kann seit dem EU-Beitritt seine Agrarprodukte besser in Westeuropa vermarkten. In der Folge stiegen in Polen die Preise für Fleisch und Milch. Daher decken viele Südpolen ihren Bedarf jetzt gerne in der Slowakei. Nicht in Liptovsky Mikulás, das immerhin 50 Kilometer hinter der Grenze liegt, aber in den Grenzorten. Die Schlangen bilden sich hier nicht an den Grenzabfertigungsanlagen, sondern vor den Geschäften. In Zilina, der mit 87 000 Einwohnern größten slowakischen Stadt im Dreiländereck, muss man wie in sozialistischen Zeiten vor manchem bahnhofsnahen Laden anstehen, um überhaupt hineinzukommen. Aber auch Slowaken profitieren vom Preisgefälle: Elektrische Haushaltsgeräte sind in Tschechien und Polen billiger.

Viele Slowaken sehen die polnischen Schnäppchenjäger mit gemischten Gefühlen. In den achtziger Jahren, als in Polen der Zucker rationiert war, ging es der Bevölkerung in der Slowakei vergleichsweise gut. Dass die Polen sie nun überholt haben, wird nicht ohne Neid gesehen. Anfang der neunziger Jahre ging im slowakischen Teil der Tschechoslowakei das Bruttoinlandsprodukt um ein Viertel zurück, hauptsächlich weil die dort starke Rüstungsproduktion zusammenbrach. Davon erholte sich die junge slowakische Republik nur langsam. Erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wurde die Slowakei für internationale Investoren interessant. Die kommen aus Deutschland, anderen westeuropäischen Staaten und Korea und bauen in dem kleinen mitteleuropäischen Land hauptsächlich Autos und Zulieferteile. Bis 2006 will die Slowakei die größte Autoproduktion der Welt haben – jedenfalls im Verhältnis zur Einwohnerzahl.

Der kleinteilige Wirtschaftsaufschwung kommt oft durch Impulse aus den slawischen Nachbarstaaten zustande. Den Aquapark Tatralandia beispielsweise würde es ohne die Badegäste aus Polen und Tschechien gar nicht geben. Und viele kleine Privatpensionen, Campingplätze, Gaststätten, Läden und Internetcafés auch nicht. Der Animateur des Aquaparks verabschiedet seine Gäste. Dicke Regenwolken ziehen auf, das Wetter droht umzuschlagen. Im Gebirge kann es sehr plötzlich zu regnen beginnen. Ela und ihre Freundin haben schon die Sachen zusammengepackt und sind auf dem Weg zur Bushaltestelle. Richard sucht seinen Sohn. An den Wasserrutschen ist der Neunjährige nicht zu sehen. Auch nicht auf dem Spielplatz. Es ist schon windig geworden und die letzten Kinder werden dort von ihren Eltern abgeholt. Da kommt Richard sein Sohn entgegengelaufen. Er war gerade beim Schwimmbadsanitäter und hat für eine deutsche Frau den Dolmetscher gespielt. Der Junge hat in Wien ein paar Brocken Deutsch gelernt. Aber seine wichtigsten Lehrmeister sind SuperRTL und Fox Kids, ohne die er kaum einen Nachmittag verbringt.

Anders als in Bratislava, der Hauptstadt und Grenzstadt zu Österreich, ist es hier in der Tatraregion aus der Mode gekommen, die deutsche Sprache zu lernen. Vor zehn Jahren noch waren Deutschkenntnisse für das Personal in der Tourismusbranche eine Basisqualifikation. Aber die Touristen aus Ostdeutschland, die in den achtziger Jahren in Scharen hierher strömten, kommen längst nicht mehr. Für die wenigen Ausnahmen braucht man dann eben einen Dolmetscher.