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Auch in seinem neuen Buch plädiert der Philosoph Karl Heinz Bohrer für eine Ästhetik des Bösen. von jan süselbeck

Viel wurde über die bildlich dokumentierten Folterungen geschrieben, die US-amerikanische Soldaten im Irak an ihren Gefangenen verübten. Pyramiden nackter Leiber, Männer an der Hundeleine: Welche dunkle Faszination ist es, die Menschen dazu treibt, derartige Gewaltexzesse zum Gegenstand »ästhetischer« Inszenierungen von Macht zu machen? Tatsache ist, dass derjenige seine Augen vor der Realität verschließt, der glaubt, solche Bilder würden nur mit Abscheu betrachtet. Was aber, wenn nun jemand auftritt, um zu behaupten, derartige Manifestationen des Bösen seien nichts weniger als die bestimmende Kategorie moderner Ästhetik?

Für den Herausgeber des Merkur, der »Zeitschrift für europäisches Denken«, Karl Heinz Bohrer, ist diese These jedenfalls nicht neu. Seine beharrliches Interesse an einer Kunst totaler Schrecknisse, der ästhetischen »Lust am Infernalischen« wurde seit Ende der siebziger Jahre zu so etwas wie seinem Markenzeichen. Die philosophische Relevanz des Themas ist unbestreitbar: Spätestens seit Auschwitz wurde es zur zentralen literarischen Herausforderung, sich der Realität eines »unsagbar Bösen« zu stellen: »Radikale Kunst heißt heute so viel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz. Viel zeitgenössische Produktion disqualifiziert sich dadurch, daß sie davon keine Notiz nimmt, etwa kindlich der Farben sich freut«, bemerkte Theodor W. Adorno in seiner ästhetischen Theorie.

Bohrer allerdings argumentiert aus einer anderen Richtung. Der Bielefelder Germanistikprofessor trat als Literaturnihilist auf, der einsam jenem ästhetischen Grauen ins Antlitz zu blicken vermochte, welches die »Gutmenschen« der Zunft mieden. So standen selbst negative Ästhetiker wie Adorno bei Bohrer als geradezu belächelnswerte Optimisten da, weil sie nicht vom Hoffen auf eine individuelle geschichtsphilosophische Erlösung lassen konnten: »Wäre nicht die epochale Erfahrung des Holocaust, dann gälte auch für Adorno noch immer Rilkes Gebet um den eigenen Tod«, triumphiert Bohrer in seinem Buch über »Ästhetische Negativität« (2002). »Dass (der Tod) ein völliges Verschwinden bedeutet – das ist die Auslöschung meiner Zukunft – hat Adorno nicht gedacht, ebensowenig wie Horkheimer es getan hat.«

Turmhoch über dem germanistischen Fußvolk »modischer Einfaltspinsel« und literaturwissenschaftlicher »Oberflächensurfer« thronte dagegen König Bohrer, um den verabscheuungswürdigen »Bigotterien der Hochschulgermanistik« und der »kleinbürgerlich kleinstädtisch-akademischen Struktur der deutschen Intelligenz« zu zeigen, wie allein der Nullästhetik volkspädagogischer Moralisten à la Jürgen Habermas zu entkommen sei: in der kompromisslosen Anerkennung des Bösen als autonomer ästhetischer Kategorie.

In seinem neuen Buch über die »Imaginationen des Bösen« hat Bohrer neun seiner seit den siebziger Jahren geschriebenen Beiträge versammelt, die sein Herzensthema aus verschiedensten Blickwinkeln behandeln. Schilderungen schrecklichen Terrors entdeckt er etwa bereits in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Gustave Flauberts Roman »Salambô« (1862) beschreibt infernalische Gemetzel. Flauberts frappierend teilnahmslos formulierte Präsentation sadistischer Rituale begreift Bohrer als pure ästhetische Imagination – und nicht etwa als kritischen Kommentar zu den realen imperialistischen Entwicklungen jener Zeit.

Auch bei Franz Kafkas berühmter Torturgeschichte »In der Strafkolonie« (1919) handele es sich »mitnichten um eine politische Parabel, in welcher die Greuel des modernen Vernichtungslagers dargestellt sind«. Vielmehr liest der Autor Kafkas Text als totale Epiphanie des Grauens, die sich jedem wertenden Kommentar entziehe. Bohrer begreift den Text damit selbst als Foltermaschine. Bohrer zufolge wurde eine derartige ästhetische Faszination der Gewaltdarstellung insbesondere »in Deutschland aufgehalten und in immer neuen Rationalisierungsmodellen gegenüber dem Bösen idealistisch umgebogen«.

Bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der die düsteren Romane E.T.A. Hoffmanns ablehnte, schrieb Anfang des 19. Jahrhunderts in seinen Vorlesungen über die Ästhetik: »Das Böse jedoch ist im allgemeinen in sich kahl und gehaltlos, weil aus demselben nichts als selber nur Negatives, Zerstörung und Unglück herauskommt, während uns die echte Kunst den Anblick einer Harmonie in sich darbieten soll.« Das beunruhigende Phänomen einer Kunst, die dagegen das pure Böse zu ihrem Hauptmotiv erhebt, werde seither vor allem auch deshalb als so skandalös empfunden, »weil es nicht mehr als bloß ›ästhetisches‹ relativierbar wird, sondern als Aggressor gegen ethische Handlungsnormen eines auf Rationalität gestellten Begriffs von Moderne wirkt«, schreibt Bohrer.

Dies führt ihn zu der Frage, ob das »verfehlte Böse im deutschen Bewußtsein« gar als defizitäres Merkmal einer nicht zu Ende geführten Moderne begreifbar sei. Den nahe liegenden Einwand, hier wolle jemand einer tief reaktionären Kunst das Wort reden, weist Bohrer vorsorglich zurück. Einen Zusammenhang zwischen romantischem Pessimismus und irrationalistischer Gegenaufklärung am Ende des 19. Jahrhunderts zu konstruieren, hält er für falsch. »Vielmehr ist zu fragen«, kontert Bohrer, »ob nicht gerade die ›idealistische‹ Ausblendung der schwarzen Skepsis den Beginn einer Entwicklung setzte, die im Idealismus der deutschen Germanistik zur Jahrhundertwende ihre weiterführende Perversion fand«.

Die Linie der Denunziation des Bösen in der Kunst zieht Bohrer bis zur marxistischen oder faschistischen Ächtung der Moderne als »bourgeoise« bzw. »entartete« Kunst. Schließlich habe man nach dem Eintritt des real Bösen in Gestalt des Nationalsozialismus das imaginative Böse in Deutschland endgültig tabuisiert: »Für die Literatur schien nur eine Alternative offen: das Gute zu wollen.« Bohrer aber plädiert für die unmittelbare ästhetische Präsenz des »schieren Massakers«.

Historische Interpretationsmodelle, die den Werken der Künstler eine mimetische Funktion zuschreiben, »d.h. die Wiederholung der bösen Wirklichkeit, die nicht zu leugnen ist, auf einer anderen Ebene« ausmachen, wischt Bohrer vom Tisch: »Das ist nicht nur die realistische Doktrin, in der sich der deutsche Idealismus, der sozialistische Realismus und der so genannte gesunde Menschenverstand treffen. (…) Wer die Ästhetik des Bösen (…) in der Literatur erkennen will, sollte von solchen lieb gewordenen Plausibilisierungen Abschied nehmen.«

Daraus folgt eine literarische Werteskala, in der Ethik, Moral und Engagement für eine »verlängerte Theodizee in der deutschen Literatur« stehen, die nur zu epigonaler Kunst zu führen vermochte. Hermann Broch, Thomas Mann, Heinrich Böll und Günter Grass werden von Bohrer als banale Moralisten abgetan, die ihre Werke einem schnöden außerliterarischen Verantwortungsdenken unterordneten. Die »säkularisierte Erbauung« in ihren Romanen fällt aus dieser Sicht weit hinter die Innovationen der Moderne zurück, da ihre reflexartige ethische Funktionalisierung in eine Reduktion ästhetischer Dimensionen mündet. Dieser Befund führt Bohrers Kritik sogar über die Grenzen der Kunstbetrachtung hinaus: »Die nicht vorhandene Ästhetik des Staates ist ein zutiefst sittliches Manko der heutigen Bundesrepublik«, schreibt er.

Der zunächst abgestrittene reaktionäre Ursprung seiner Argumentation schlägt damit schließlich doch auf den Interpreten zurück. Einen angeblich ausgegrenzten Autor wie den bis zuletzt offen rechtsextremen Ernst Jünger krönt Bohrer nicht von Ungefähr zu einem der bedeutendsten Künstler der deutschen Moderne: »Man kann die (…) archetypische Funktion Heinrich Bölls als des Guten spiegelbildlich an der negativen Rolle ablesen, die der uralt gewordene Ernst Jünger nach dem Zweiten Weltkrieg im deutschen Literaturbetrieb besetzt hielt.«

Verblüffenderweise spekuliert Bohrer nun ausgerechnet im Fall Jüngers über dessen intentionale Bezugnahmen auf den historischen Kontext des Nationalsozialismus. Er versucht sogar, den begeisterten Militaristen anhand seiner Horrorvisionen in der berühmten Capriccio-Sammlung »Das abenteuerliche Herz« (1929/1938) zum Ankläger der »beginnenden Entmenschung im Deutschland kurz vor Kriegsausbruch« zu stempeln. »Was immer Jünger (…) beabsichtigte, es bleibt (…) ein herausragender Kommentar zur moralischen Verfassung des ›Dritten Reichs‹.« Damit verfällt Bohrer selbst den von ihm so verhöhnten »Plausibilisierungen« und deutet einen der emphatischsten Gewaltverherrlicher der deutschen Literatur angesichts der NS-Verbrechen plötzlich zum Moralisten um.

Hier tun sich unauflösbare Widersprüche auf. Gerade beim Thema der Gewalt und des Bösen in der Kunst erscheint es fraglich, ob eine ahistorische Lesart, wie sie Bohrer fordert, überhaupt durchführbar ist. Schon in seinem Vorwort räumt Bohrer in Anspielung auf den 11. September 2001 ein, dass das »Problem des Bösen in letzter Zeit im Zuge kriegsbedingter Grausamkeit erneute Aktualität gewonnen hat«, um sich gleichzeitig von derlei Perspektiven elegant zu distanzieren. Damit depotenziert der Autor das reale Grauen, mit dem sich die Kunst doch immer wieder neu zu messen hat. Und scheitert.

Karl Heinz Bohrer: Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie. 272 Seiten. Hanser Verlag 2004. 19,90 Euro