Endlose Flucht

Auch nach fünf Jahren gibt es keine Lösung für die von rassistischen Pogromen betroffenen Kosovo-Flüchtlinge. von karin waringo, brüssel

Vor den Toren des Flüchtlingslagers im mazedonischen Stenkovac ist am 5. Juni 1999 viel los. Gegen acht Uhr abends versammeln sich mehrere tausend Kosovoalbaner und fordern die Auslieferung der dort lebenden Roma an das internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Sie beschuldigen sie, an den Gewaltakten der jugoslawischen Armee gegen Mitglieder ihrer Gemeinschaft teilgenommen zu haben. Bei der anschließenden Schlägerei werden 15 Menschen derart schwer verletzt, dass sie ins Militärkrankenhaus in Skopje gebracht werden müssen.

Das liegt nun fünf Jahre zurück. Vier Tage später, am 9. Juni 1999, stellte die Nato ihre Luftangriffe auf Jugoslawien vorläufig ein. Am Tag darauf verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1244, mit der die internationale Gemeinschaft die Verantwortung für die Geschicke in der Provinz übernahm und die Sicherheit der Angehörigen aller Volksgruppen garantierte. Wenige Wochen später verzeichnete das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, 230 000 Kosovoflüchtlinge: Serben, Roma, Ashkali und Angehörige anderer Minderheiten, die vor Racheakten der Kosovoalbaner und gezielten Angriffen durch Mitglieder der UCK flüchteten.

Fünf Jahre später scheint niemand einen genauen Überblick über die Zahl der Menschen zu haben, die den Kosovo nach dem Juni 1999 verlassen mussten. Ein Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks vom Januar schätzt die Zahl der Flüchtlinge, die in Serbien und Montenegro geblieben sind, auf 225 000 Personen. Auch wenn es keine genauen Zahlen gibt, ist davon auszugehen, dass mehr als hunderttausend Menschen aus dem Kosovo in EU-Ländern Zuflucht gefunden haben, zehntausende allein in Deutschland.

Die Vorgänge im Kosovo markierten einen Umschwung in der europäischen Flüchtlingspolitik. Die EU-Staaten, insbesondere jene, die während des Bosnienkriegs viele Flüchtlinge aufgenommen hatten, wollten sich gegen einen erneuten »Ansturm« schützen. Folglich verständigte man sich darauf, die Flüchtlingskrise »regional« zu lösen. In den angrenzenden Ländern und Gebieten wurden Flüchtlingslager eingerichtet und mit westlichen Hilfsgeldern unterstützt. Flüchtlinge, die es dennoch bis in den Westen schafften, erhielten oft nur einen befristeten Schutz, in Deutschland wurden sie in der Regel nur »geduldet«.

Angesichts der prekären Sicherheitslage für Angehörige von Minderheiten im Kosovo vertrat das UN-Flüchtlingshilfswerk von Beginn an die Ansicht, dass Angehörige von Minderheiten nicht in den Kosovo abgeschoben werden sollten. Doch bereits im August 2000 verzeichnete die Hilfsorganisation erste Abschiebungen von Roma aus Niedersachsen. Im November 2003 bezifferte der Europarat die Zahl aus Deutschland nach Serbien und Montenegro abgeschobener Roma auf rund 1 000. Doch auch Dänemark und Großbritannien schoben Angehörige von Minderheiten ab. In zahlreichen Fällen wurden Flüchtlinge, die in den Kosovo zurückkehrten, Opfer von Gewalt, wie aus einem gemeinsamen Bericht des UNHCR und der OSZE hervorgeht. Im Oktober 2000 wurden vier Ashkali aus Srbica am Morgen nach ihrer Rückkehr getötet, doch dies entging der westlichen Öffentlichkeit.

Auch die Flüchtlinge, die in der Region blieben, wurden keineswegs mit offenen Armen aufgenommen. Eher kann man von einem Stillhalteabkommen sprechen, an das sich die lokalen Behörden solange hielten, wie westliche Hilfsgelder flossen. Doch mit dem Ende dieser Hilfe nahm die Bereitschaft, den Flüchtlingen unter die Arme zu greifen, stetig ab. Viele Roma und Ashkali fanden keine Unterkunft und übernachteten im freien Feld. Tausende leben bis heute in slumähnlichen Flüchtlingslagern oder werden zwischen verschiedenen Provisorien hin- und hergeschickt.

Am 19. Mai richtete der Ombudsmann der Kosovo-Institutionen, Marek Nowicki, einen Appell an den Premierminister Montenegros und bat ihn, die Notlage der Flüchtlinge aus dem Kosovo anzuerkennen. »Diese Menschen leben nun seit fast fünf Jahren in Armut, einige von ihnen in extremer Armut, ohne entsprechende Hilfe zu erhalten«, schrieb Nowicki. Und er fügte hinzu: »Zum jetzigen Zeitpunkt ist es unmöglich zu sagen, wie lange die Situation im Kosovo ihre Rückkehr verhindern wird, wenn diese je stattfinden kann.«

Auch wenn bisher kein anderer ranghoher Vertreter der internationalen Gemeinschaft so weit ging, die Rückkehr der Angehörigen von Minderheiten in den Kosovo grundsätzlich in Frage zu stellen, brachten nach den Märzpogromen viele hohe Verantwortliche ihren Pessimismus zum Ausdruck. Die Angriffe auf Serben, Roma und Ashkali stellten einen schweren Rückschlag für die Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft dar, einen multiethnischen Kosovo zu etablieren, hieß es einmütig. In einem unmittelbar nach den Angriffen veröffentlichten Bericht bezeichnete der UNHCR sie als »die schwersten interethnischen Zusammenstöße seit 1999« und forderte die Regierungen der Aufnahmeländer auf, einstweilen von Abschiebungen in den Kosovo abzusehen.

Die neuerliche Vertreibung von Angehörigen ethnischer Minderheiten hat der Diskussion um den Status der Provinz neuen Auftrieb gegeben, wobei sowohl von serbischer als auch von albanischer Seite argumentiert wird, dass die prekäre Statusfrage ein friedfertiges Zusammenleben aller Volksgruppen in der Provinz verhindert. Die europäischen Außenminister erneuerten ihr Bekenntnis zu einem multiethnischen Kosovo und forderten die lokale Übergangsregierung und die Unmik-Verwaltung auf, die so genannten Standards – also Bedingungen, die die internationale Gemeinschaft erfüllt sehen will, bevor die Statusfrage endgültig verhandelt wird – zu respektieren.

Allerdings drückte man sich bisher allgemein um die Frage, ob eine Rückkehr der Angehörigen von Minderheiten aus dem Kosovo auf absehbare Zeit überhaupt realistisch ist. In der Tat würde diese Diskussion einem Tabubruch gleichkommen. Die internationale Gemeinschaft müsste sich endgültig der Frage stellen, ob der Krieg gegen Jugoslawien und die einseitige Stellungnahme für die UCK richtig war. Sie müsste zugestehen, fünf Jahre lang die Angriffe auf Minderheiten kaum verfolgt und noch weniger geahndet zu haben, obwohl internationale Menschenrechtsorganisationen dies unermüdlich kritisierten. Und sie müsste sich endlich dem Flüchtlingsproblem stellen.

Stattdessen wird eine absurde und für jene, die sie unmittelbar durchleben müssen, unerträgliche Situation aufrechterhalten, in der Menschen weder in ihr Herkunftsland zurückkehren, noch sich in dem Land, in dem sie Zuflucht finden, niederlassen können. Der jüngste Bericht des UNHCR verlängert erneut die Galgenfrist, mit der die Flüchtlinge leben, doch niemand weiß, wie lange sich die EU-Regierungen daran halten werden. Am 18. Mai schrieb der Kosovo-Ombudsmann die zuständigen Minister von sechs EU-Ländern, darunter auch Bundesinnenminister Otto Schily, vorsorglich an und forderte sie auf, Pläne zur Abschiebung von Roma und Ashkali vorerst beiseite zu legen. Ob solche Appelle auch offene Ohren finden, wird sich jedoch zeigen müssen.