Lauscht nicht so romantisch!

»Weltmusik«, ein Kampfbegriff aus Marketing und Politik im Dickicht der Widersprüche. von klaus walter

In meinem Schwimmbad gibt es regelmäßig Ärger mit ihnen. Sie sind lauter als wir, sie streiten sich häufig in einer unverständlichen Sprache, und sie tragen keine Badekleidung. Die Männer stellen sich in voller Montur unter die kalte Dusche, oder sie gehen mit Unterhemd ins Becken. Und alle sind dick. Schon die Kinder haben Übergewicht. Vor allem aber sind sie laut. Sie, das sind Sinti und/oder Roma, »Zigeuner« darf man sie ja nicht mehr nennen, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Letzten Sommer gab es eine öffentliche Debatte, weil der Schwimmclub gegen mehrere Sinti/Roma Hausverbote verhängt hatte wegen ungebührlichen Betragens.

Kritiker sahen rassistische Diskriminierungen.

Ganz anders als im Schwimmbad sieht das in der Weltmusik aus. Da dürfen sie laut sein.

Auch das leidige Namensproblem ist gelöst. An die Stelle des umständlich korrekten »Sinti und Roma« und des inkriminierten »Zigeuner« tritt das unverfängliche »Gypsy«. Das ist zwar auch bloß englisch für »Zigeuner«, klingt aber besser. Außerdem gab es mal eine Band of Gypsies von Jimi Hendrix. Allerdings auch die Gypsy Kings, deren Ballermann-Ethnohits bis heute tagtäglich im spanischen Restaurant neben meinem Schwimmbad gespielt werden. Bamboleeeeeyo!!!!

Der Titel »Electric Gypsyland« spielt also gleich doppelt auf den großen Hybriden des Rock an, schließlich heißt Hendrix’ berühmtestes Album Electric Ladyland. Dieses Ende letzten Jahres erschienene Album versammelt Remix-Versionen von Songs der Gruppe Taraf De Haidouks und anderer »Balkan Gypsy Bands«. Unter den Remixern finden sich altgediente Figuren der Elektronikszene: die Briten Juryman und Bigga Bush (Rockers Hi-Fi), die (Teilzeit-)Frankfurter Stefan Hantel (Shantel) und Uwe Schmidt (Señor Coconut), aber auch der Brasil-Nuyoricaner Arto Lindsay. »Gypsy music is conquering an increasingly wider public«, verkündet das Album-Cover im Auftrumpfsound der Welteroberer, pietätvollerweise nicht in deutscher Sprache. Tausende von »Ex-Techno-Kids« gingen regelmäßig »crazy« zur »Gypsy Music« vom »Balkan«, erläutert die Plattenfirma und berichtet von der langen Schlange bettelnder Elektronik-Musiker: »Please let me remix a Taraf Track.«

Der Wunsch ist verständlich. Die angloamerikanische Popmusik kriselt: ökonomisch sowieso, aber was noch schlimmer ist, sie verliert ihre sinnstiftenden Qualitäten, ihre Definitionsmacht. Techno, House und Drum’n’Bass stagnieren in ihren (selbst)zugewiesenen Nischen. In das entstandene Vakuum stoßen die so genannte »Weltmusik« im Allgmeinen und Subgenres wie der »Gypsy«-Sound im Besonderen. In das entstandene Vakuum stoßen Leute wie das Multi(tasking)-Talent Stefan Hantel, alias Shantel. So, wie jede Hollywoodproduktion zwecks Erweiterung der Produktpalette ihr eigenes »The Making of …« im Angebot führt, das Märchen ihrer Entstehung, genauso ist das Märchen seiner Entstehung dem Produkt, das Hantel auf den Markt bringt, eingeschrieben. Das Nirvana-Märchen beispielsweise beginnt mit der Information auf dem Cover von »Bleach«: »Recorded by Jack Endino for $600« … und das Fantastilliardenfache davon eingespielt.

Das Shantel-Märchen steht geschrieben in den Linernotes seines Erfolgsalbums »Bucovina Club«, und es enthält alle Elemente & Sentimente eines modernen Erfolgsmärchens. Zunächst den Erfolg an sich: »Als Produzent und DJ hat er sich längst einen guten Namen im internationalen Club-Circuit gemacht.« Dann den Pioniergeist: »Im Sommer 2001 aber packte ihn plötzlich die Neugier und so machte er sich auf in die Landschaft seiner Vorväter …«, – keine Vormütter? … – »nach Czernowitz in die Ukraine, und von dort aus weiter nach Rumänien.« Wie mag er sich aufgemacht haben? Zu Fuß? Auf dem Maulesel? Oder doch mit der Droschke? »Auf Wochenmärkten und den ungeteerten Straßen der Region begegnete er dabei wieder jenem Sound des Balkans, der sich bis heute gehalten hat und der ihn erneut gefangen nahm.« Kein Teer auf der Straße, aber immer ein Lied auf den Lippen, so kennt man den Balkanesen.

»Der Zufall wollte es, dass das Schauspiel Frankfurt auf der Suche nach einer Veranstaltung war, die über eine reine Party hinausgehen sollte.« Den balkanistisch-kulturellen Mehrwert versprach Shantel: »So kam es zum Bucovina Club, der seitdem das Foyer des altehrwürdigen Theaters schon mehr als einmal in ein regelrechtes Tollhaus verwandelt hat.«

Die CD zum erlebnisgastronomischen Club-Event war also nur eine Frage der Zeit.

Dass der Autor dieser treuherzigen Ethnofolklore seinen Werbetext aus dem CD-Booklet in kaum veränderter Form auch in der Berliner taz publizierte, wo er Redakteur ist, muss man ihm angesichts der nicht nur dort üblichen Honorare nicht ankreiden. Interessanter sind andere Fragen: Wie kommt es zur Renaissance von Kampfbegriffen und Ideologemen aus der Steinzeit der linken Melancholie? Warum darf man wieder von »Ursprüngen«, »Wurzeln« und »Authentizität« raunen, sich daran erbauen, »dass der Rhythmus und die Melodien nicht programmiert sind, sondern von Pauken und Posaunen stammen«? Klar, wie sollen die programmieren, wenn sie nicht mal Straßen teeren können?

Aus welchen Quellen speist sich die klassen- und milieuübergreifende Popularität von Bucovina, Gypsy Music, Russendisko und »Weltmusik«, und warum ist sie gerade in (ex-) linken Kreisen besonders schwer zu ertragen? Offenbar versprechen so unterschiedliche »Weltmusiken« wie türkische Schlager, Rai und der United-Colors-of-Manu-Chao-Patchwork-Frühstücksradio-Pop einem mit angloamerikanischer Popmusik sozialisierten mitteleuropäischen Publikum raschen Genuss ohne Reue bei niedriger Türschwelle. Dabeisein ist einfach, die Einladung zum bukolisch-balkanistisch-bongoschamanistischen Weltmusikmaskenball enthält die Garantie, dass die Gäste nicht belästigt werden von Differenzmaschinen und Popdiskursen; man darf endlich wieder sein, wie man ist, als habe es Camp & Zitatpop, Roxy Music & Matmos, Warhol & Scritti Politti, Riot Grrrl & Luftwurzeln, Chicks on Speed und Grace Jones nie gegeben. Und sogar die Drogen sind legal. Für den Kopf ist zu viel Wodka wahrscheinlich auch nicht besser als zu viel Ecstasy. Ästhetisch und politisch sind wodkatrunkene Bucovina-Schunkler aus Frankfurt auch nicht besser zu ertragen als Menschengruppen aus Bottrop, die am Strand von Arenal mit Strohhalm Sangria aus Eimern schlürfen und dazu »Bamboleeeeyoooo!« skandieren.

Besonders schwer zu ertragen ist allerdings die Kombination aus Weltmusikliebhaber und Globalisierungskritiker, oder, die verfeinerte, quasi popjournalistische Variante: Weltmusik-Agent und Diskurspop-Revisionist.

Der Weltmusikliebhaber und Globalisierungskritiker ist eigentlich umgekehrt: zunächst Globalisierungskritiker, das heißt irgendwie Ex-Anti-Imp und dann, mit dem allgemeinen Verschwimmen der Konturen: Globalisierungskritiker. Als solcher ist er von je her mit einer gewissen Skepsis gegenüber den Hervorbringungen kalifornischer Unterhaltungskonzerne imprägniert. Mit dem allgemeinen Verschwimmen der Konturen in Körper und Welt wächst im Globalisierungskritiker ein diffuser Verdruss an einer sich immer weiter ausdifferenzierenden, immer schnelleren und immer weniger überschaubaren angloamerikanischen Popkultur, welcher dem Weltmusikliebhaber im Globalisierungskritiker zum Coming-Out verhilft. In einem tabula-rasa-radikalen Akt der Selbstermächtigung verklärt er seine Diskursmüdigkeit, Genervtheit und den Ärger übers eigene Nichtmehrmitkommen und erklärt die Musik der Malediven und Madagaskars, Bollywoods und Bucovinas zur nunmehr einzig relevanten – in ihrer ganzen Vielfalt, versteht sich. In diesem Akt wiederholt der middle-age-Worldmusiclover ein politkulturalistisch-touristisches Revolutions-Groundhopping, das wir aus den Siebzigern und Achtzigern kennen: dieses Jahr fahren wir nach Chile, nächstes Jahr nach Portugal, und waren wir eigentlich schon in Nicaragua?

Damit soll keiner »Weltmusik« aus keinem Teil der Erde ihre Schönheit, Klugheit oder Berechtigung abgesprochen werden, auch die Motive von Labelmachern und Aficionados, die diese Musiken in Westeuropa bekannt machen, sollen nicht in Zweifel gezogen werden. Allerdings sind die Promoter und Verkäufer von »Weltmusik«, wie andere Verkäufer auch, auf die Ahnungslosigkeit ihrer Kundschaft angewiesen. Wenn ich Musik aus Malaysia, Bali oder Mali höre, dann weiß ich nicht, ob ich da die malinesischen Blumfeld höre oder Malis Antwort auf die Wildecker Herzbuben, Balis Tocotronic oder Balis Pur. Wobei schon in der Annahme, es gebe auf Mali »Gegenstücke von« oder »Antworten auf«, die ethnozentrische Anmaßung steckt. Mangelndes Verständnis der unbekannten Musik, Ahnungslosigkeit und Sprachbarrieren kompensieren »Weltmusik«-Konsumenten mit einer vorauseilenden Pauschalverbeugung vor der »Authentizität der fremden Kulturen«. Ob diese »Kulturen« jetzt Ganzkörperverschleierung, Steinigung bei Ehebruch, Blutrache oder bloß Abtreibungsverbot inkorporieren, das bleibt nachrangig, weil im Zweifel unverstanden. Hier trifft sich der gratistolerante Multikulturalismus von Weltmusik-Konsumenten mit der neorechten Differenz-Ideologie des Ethnopluralismus. Diesen Ethnopluralismus brachte erst kürzlich Jean-Marie Le Pen in dankenswerter Klarheit auf den Punkt. Er sei gegen das Verbot von Kopftüchern und Schleiern an Schulen, so der französische Rechtspopulist, man solle »ruhig sehen, dass diese Leute anders sind«, dann habe man auch Gründe, sie wieder loszuwerden.

Der Boom der »Weltmusik« lief in den letzten Jahren parallel zu den Erfolgen der Globalisierungskritik. Folglich, so die schlichte wie verkaufsfördernde Folgerung, liefert »Weltmusik« den Sound der »Gegenglobalisierung«, einen musikalischen Gegenschlag der Verdammten dieser Erde. Der Preis für die erfolgreiche Vermarktung von »Weltmusik« als »authentischer Ausdruck« einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft ist ein Rückfall in reaktionäre kulturelle und politische Muster. Wenn, sagen wir, Oumou Sangaré als »die Stimme Malis« promotet wird – so wie jedes afrikanische Land in dieser Logik seine eine Stimme hat –, dann mag das der Künstlerin weiterhelfen. Zugleich werden ethnozentrische Stereotypen und völkelnde Zuschreibungen benutzt, die sich kein Westeuropäer bieten ließe. Auch kein Amerikaner: »Unsere Vorlieben beim Hören von Musik aus anderen Ländern spiegeln unsere kolonialen Attitüden. Hier erfahren wir mehr von unseren Bedürfnissen, unseren politischen und kulturellen Haltungen gegenüber ›dem Fremden‹, ›dem Anderen‹, als über die Musik, die die Leute machen. Es geht uns darum, andere Kulturen zu romantisieren und mit Hilfe der Musik eine gewisse Distanz aufrecht zu erhalten.«

Mit diesen Worten hat David Byrne im englischen Wire-Magazin begründet, warum er Weltmusik hasst, »not the music, the term«, wohlgemerkt. Byrne war Kopf der Talking Heads und mit seinem Luaka-Bop-Label schon in den achtziger Jahren erfolgreicher Importeur und Promoter brasilianischer Musik. Als Pionier des kulturellen Transfers weiß er, dass den Widersprüchen des Neoliberalismus nicht mit einer schlichten »Gegenglobalisierung« beizukommen ist, dass »ethnische« Sounds per Filetransfer um den Erdball kreisen, ganz und gar wurzellos. Und er weiß um das »Paradoxon, dass diese Ideen, Samples, die auf diese Weise zirkulieren, von haargenau der Ökonomie und deren Institutionen in Bewegung gebracht werden, die die Lebensbedingungen ihrer Autoren gefährden«, wie es George Lipsitz in seinem Buch »Dangerous Crossroads – Popmusik, Postmoderne und die Poesie des Lokalen« formuliert hat.

Dass es für diese Paradoxien keine einfachen Lösungen gibt, zeigt die regenbogenbunte Vielfalt der »Globalisierungsgegner«, die sich zu Wort melden, wenn es darum geht, den übermächtigen Einfluss der angloamerikanischen Popkultur einzudämmen, mit Hilfe einer Radioquote beispielsweise. Da finden sich Anti-Imperialisten regelmäßig Seite an Seite mit Weltmusikfreunden und Apologeten einer bereinigten Nationalkultur.

Der Rekurs auf die Scholle, die kulturelle Re-Ethnifizierung ist eine weit verbreitete Reaktion auf die ökonomische Globalisierung. Sie findet ihre Repräsentanten in einer neuen, sich rasch vermehrenden Spezies von Popjournalisten: der Weltmusik-Agent als Diskurspop-Revisionist.

Dieser Typus nutzt die Sinnkrise der angloamerikanischen Popmusik und der ihr angeschlossenen Diskurse für einen Backlash. Er bedient sich der aus politischen Feldern bekannten Rhetorik des »man wird doch wohl mal sagen dürfen«, die mit der Geste des Tabubruchs neue Ressentiments formuliert. Man wird doch wohl sagen dürfen, dass man beim Grand Prix in Litauen (oder war es Lettland) dem deutschen Kandidaten die Daumen gedrückt hat, aber auch zufrieden war, als die türkische Sängerin gewonnen hat, man wird sich doch freuen dürfen, dass türkische Schlager jetzt von türkischen Moderatorinnen bei VIVA angesagt werden. Man wird doch wohl mal sagen dürfen, dass es bei den Gypsys zugeht wie im Tollhaus, ohne sich von Diskurspop-Schlaubergern daran erinnern lassen zu müssen, dass wir schon mal weiter waren: Camp & Zitatpop, Roxy Music & Kraftwerk, Warhol & Scritti Politti, Riot Grrrl & Luftwurzeln, Chicks on Speed und Grace Jones.

Selbstverständlich gibt es auf »Electric Gypsyland« wie auf »Bucovina Club« Tracks, die sich Zitatpop, Luftwurzeln und Camp zu Nutze machen. Nette Hybride mit hohem Schunkelfaktor, transsylvanische Skatalites, die ohne pittoreske Touristenpoesie von »ungeteerten Straßen« gut zu ertragen wären. Aber so? Bleibt nur mit Bert Brecht, dem alten Bastardpopper, zu rufen: Lauscht nicht so romantisch!