Kanzler, erlöse uns!

Demonstrationen am 3. April von jörg sundermeier

Die Demonstrationen gegen Sozialabbau sind gelaufen. Sie waren groß, keine Frage, und sie waren völlig machtlos. Wahrscheinlich waren sie die letzten ihrer Art. Denn sie prägte das Verhalten von schüchternen Kindern. Beim Cowboyspielen stellen sie sich verletzt, in der Hoffnung, dass man sich um sie kümmern werde. Die »Verletzten« langweilen die anderen Kinder aber bald, und diese überfallen dann lieber weiter die Baumhäuser der gegnerischen Gang. Die Verletzten bleiben allein zurück, und müssen sich, um wieder mitspielen zu können, für gesund erklären.

In Berlin konnte man sie am Samstagmorgen in ihren Bussen sehen, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter von überallher, markiert mit roten Mützen. Die meisten von ihnen waren älter, sie fuhren vermutlich schon unzählige Male kämpfen. Sie bildeten die Masse, die sich nicht einverstanden zeigte mit der Agenda 2010, mit der fortschreitenden Auflösung der Gewerkschaftsrechte, mit dem Abbau sozialer Garantien etc. Sie demonstrierten samstags, damit keine Urlaubstage genommen werden mussten, vor allem aber die Betriebe nicht geschädigt wurden. Und sie hielten sich vom autonomen Demoteil fern, mit dem dann die Polizisten, die nicht mit grünen GDP-Luftballons umherliefen, ungestört rangeln konnten.

Nicht dass die Erwerbslosen, Studierenden und mehr oder minder freiwilligen Ich-AGs, aus denen sich die autonomen Demos rekrutieren, machtvoller sind. Sie verbreiten lediglich ein wenig mehr Unruhe, und sei es auf der Spektakelebene, als die angereisten »ganzen Belegschaften« (DGB). So oder so aber demonstrierten alle, Autonome wie DGBler, nur, dass sie demonstrierten. Die einen demonstrierten für ein bald zu allgemeines »Wir wollen alles«, die anderen demonstrierten mit Sommer, Bier und Heinz Rudolf Kunze dafür, dass sie dagegen sein wollen. Beide aber, wie radikal auch immer sie sich gerieren, weigern sich, selbst zu agieren.

Solange aber der Souverän nicht seine Möglichkeiten ergreift, sondern in stummer Vorausahnung, dass man ja eh nichts machen könne, zu seinem Volksfest geht, kann man ihn ruhig verhöhnen. Benneter und Müntefering zeigen sich unbeeindruckt, Westerwelle fordert die Entmachtung der Gewerkschaftsfunktionäre, der ehemalige Minister Norbert Blüm darf als Redner auftreten, als hätte er nie den Sozialabbau gefordert. Die Regierung kann unbeeindruckt sein, denn diese Demonstrationen ziehen keine Protestwelle nach sich, aus Sorge um den Standort wird niemand es wagen, die Arbeit niederzulegen oder Straßen zu sperren.

Im Gegenteil, die grauen Gewerkschafter wenden derzeit den Blick nicht ab vom Kanzleramt, in welchem falsch gehandelt werde. Kann denn, fragt man sich, in diesem Staat, dieser Gesellschaftsordnung und dieser Wirtschaftsform die Regierung überhaupt grundlegend anders handeln? Nein, dennoch erwartet man vom Kanzler Erlösung, sonst würde man sich nicht ausschließlich gegen ihn wenden. Der Kanzler hat Ruh’ – den Erlöser kann und will er nicht geben, solange man jedoch auf ihn schielt, anstatt sich selbst zu organisieren, sind die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen keine Gegner. Sie haben sich selbst zum Abwarten verurteilt, nur dass ihr Martyrium kaum noch interessiert.