Ausflug der Massen

In Köln wie in Berlin demonstrierten Gewerkschafter und Linksradikale gemeinsam gegen Sozialabbau und gegeneinander

Vorne ist nicht links

»Rrrechts sollen wir abbiegen, hat er gesagt!« Der lautstarke DGB-Männerblock aus dem Sauerland hat sich verlaufen. Mitten in der linksradikalen Demo sind die Kollegen mit den Bierdosen gelandet. Leicht irritiert schweifen ihre Blicke über den Heumarkt, die offizielle Route suchend, auf der sich gerade 120 000 Menschen in Richtung Hohenzollernring wälzen.

Schuld an der Verwirrung der Sauerländer sind linke Gruppen aus dem Rheinland. »Wir werden am Heumarkt, dort, wo die Demonstration des DGB nach rechts abbiegt, als Demonstration weitergehen«, kündigten sie vieldeutig auf einem Flugblatt an. »Wir wollen mit unserem Weitergehen die Kritik am Kurs der Gewerkschaften sichtbar machen«, schallt es aus dem Lautsprecher, und etwa 700 Linke machen diese Ankündigung nach einigen Rangeleien mit Gewerkschaftsordnern, die die Abspaltung zunächst nicht zulassen wollen, wahr.

Während der antikapitalistische Block seinen eigenen Weg geht, lustlos und wenig kämpferisch, schlängelt sich der Gewerkschaftsfamilienausflug gemächlich durch die frühlingshafte Kölner Altstadt. Der DGB hat das Geschehen völlig im Griff. Wer keine Gewerkschaftskappe trägt, fällt auf, die IG BCE prägt mit tausenden von Schildern die Demonstration. Schwarz-rot-gelb leuchtet es darauf, daneben das Motto: »Modell Deutschland«.

Viel Unruhe, auch Wut hat der Abriss der sozialen Sicherungssysteme ausgelöst, sogar in Kreisen, denen die Politik bisher piepegal war. Gelegentlich spürt man das auf der Kölner Demonstration; wütende Slogans, ärgerliche Mienen sind immer wieder zu sehen. Der soziale Frieden, das »Modell Deutschland« eben, ist nicht mehr so sicher wie bisher.

Der IG Metall-Vorsitzende Jürgen Peters stellt klar, dass es den Gewerkschaften nicht um die Verhinderung der so genannten Reformen gehe. »Auch wir wollen Veränderungen«, sagt er, »aber nach vorne.« Wo »vorne« ist, weiß man nicht so recht, links ist es jedenfalls nicht. »Die Gewerkschaften sind keine linke Randgruppe«, bestätigt der Kölner DGB-Vorsitzende Wolfgang Uellenberg-van Dawen: »In Grundsatzfragen des Sozialstaates ist mir Norbert Blüm näher als Leute von SAV, DKP und ML.«

Mit Norbert Blüm und dem Sozialkatholizismus wollen die Gewerkschaftsführer offenbar den Weg »nach vorne« gehen. »Hört doch mal zu!«, ruft der ehemalige CDU-Bundesarbeitsminister ins Mikrofon, mehr von seiner Rede ist durch das gellende Pfeifkonzert hindurch nicht zu verstehen. Doch die Katholische Arbeitnehmerbewegung zeigt Präsenz, gegen Ende der Rede Blüms beginnen einige zu applaudieren.

»Modell Deutschland – nie wieder!« liest man auf einem Flugblatt, das nur wenige der 120 000 Demonstrantinnen und Demonstranten in die Hand nehmen wollen. Am Rand des Kundgebungsplatzes haben die Gewerkschaften linken Organisationen und Initiativen Platz für Infostände zugeteilt, dort ist man, abgesehen vom Durchgangsverkehr, unter sich. Die üblichen Verdächtigen werben dort für ihre Aktivitäten, auch Freiwirtschafts-Fans verteilen Pamphlete, Peta-Flugblätter liegen aus. »Biete Liebes-Unterricht im Geiste Jesu«, prangt auf einem Plakat. Hoffungsvoll gibt sich der Kinderbereich neben der Kundgebung: »Maus und blauer Elefant sind der wahre Widerstand.«

jörg kronauer

Sturmzeichen im Wasserglas

»Länger schlafen« steht auf dem kleinen improvisierten Pappschild, das ein mürrischer Demonstrant über den Alexanderplatz jongliert. Es ist kurz vor zehn und die ankommenden Sozialprotestler suchen noch nach Anschluss in den sich formierenden Demonstrationsblöcken. Ein Pärchen, etwa Mitte dreißig, hat zwischen sich ein Betttuch gespannt mit der schlichten Aufschrift: »Die Wut wächst.« Sie bleiben an einem Wagen des Bündnisses Montagsdemo stehen; gerade läuft ein Solidaritätsliedchen zum Mitschunkeln. Vereinzelt setzen Rasseln und Trillerpfeifen ein. Danach erklärt ein Redner, warum »das Volk« als solches noch immer ein guter Ausgangspunkt für den gesellschaftlichen Wandel sei. Die Zuhörer wirken ein wenig verständnislos.

Damit die Demonstranten sich inhaltlich nicht zu sehr verirren, stellt Hasso Düvel von der IG Metall vor dem allgemeinen Aufbruch zum Brandenburger Tor fest: »Das aufblitzende Sturmzeichen des Widerstands sind die Gewerkschaften.« Und da sich einige der Zuhörer vielleicht noch an die Demo des vergangenen Novembers erinnern, als 100 000 Menschen unter Abwesenheit der Arbeitnehmerverbände gegen die sozialen Kürzungen protestierten, legt er schnell nach: »Heute werden sie uns hören, denn es sollen noch mehr Teilnehmer werden als im letzten Jahr. Die Politiker werden diesen Umzug raunend zur Kenntnis nehmen.« Danach fahren die Gewerkschafter ein hartes musikalisches Geschütz auf. Frei nach Brecht singt Dina Pitsch den »Kanonensong 2003/2004«, damit »neben dem Sozialabbau der Frieden nicht vergessen wird«. Vor die Bühne schiebt sich eine rote Wolke aus PDS-Luftballons.

Nur wenige Meter weiter überdröhnen die Lautsprecherwagen des radikalen Blocks die politischen Zielvorgaben der Sozialpartner. Statt »echter Reformen« fordert ein Transparent der FAU »echte Gewerkschaften«; aus einem Megafon tönt es: »Aufstehen könnte ein Anfang sein, aber wir müssen weg von der sozialen Stellvertreter-Politik.« Das scheint Konsens im schwarz-roten Block zu sein, dem sich neben der Initiative Act! noch mehr als 20 weitere Organisationen angeschlossen haben. Unter dem Motto »Alles für Alle« setzen sich die Wagen kurz vor Mittag in Bewegung. Links werden sie überholt von laufstarken Verdi-Aktivisten mit Plakaten wie »Schröder: Das trojanische Pferd der CDU und der Bosse.« Auf den Straßenbahngleisen steht Linksruck bereit, »für eine neue Linkspartei«.

Der Demozug zieht durch ein paar Nebenstraßen. Die graue Fassade eines Gebäudes des BDI bekommt ein paar Farbspritzer ab. Grund genug für die Polizei, wenig später den radikalen Block mehrere Male zu attackieren. Es kommt zu Festnahmen, aber außer der Gesellschaft für Legalisierung und ein paar versprengten Demonstranten aus anderen Blöcken hält es niemand für nötig anzuhalten. Nur knapp einem Polizeikessel entgangen, geht es weiter bis zum Potsdamer Platz, wo sich ein schwarz-roter Haufen mit der S-Bahn in die Oranienburger Straße absetzt, um das Haus Nummer 19 zu besetzen und zum sozialen Zentrum zu erklären. Kurz darauf verabschieden sich die Lautsprecherwagen: »Bockwurstessen mit dem DGB am Brandenburger Tor is’ eh nich’ unser Ding.«

Wer aber Hunger hat oder neugierig darauf ist, was die gut 250 000 übrigen Demonstranten in der Zwischenzeit angestellt haben, kann im Tiergarten ein wenig Picknickflair erleben, Radio Fritz spricht von Volksfeststimmung, eine Blaskapelle mit schwarz-rot-goldener Standarte und eine polnische Solidarnosc-Delegation inklusive, passend dazu die Redebeiträge. Einem französischen Gewerkschafter beispielsweise fallen zum Projekt Europa drei Punkte ein: Arbeit, Wirtschaftswachstum und sozialer Fortschritt.

Für ein soziales Zentrum hat es nicht gereicht. Das Haus Nummer 19 wurde schnell geräumt. Dafür kann der DGB sich jetzt damit brüsten, die größte Gewerkschaftsdemo der letzen zehn Jahre organisiert zu haben. Wem dieses epochale Sturmzeichen nicht genug ist, der darf sich auf den 1. Mai freuen. Und wenn es nach Act! geht, beginnt der in diesem Jahr schon am 14. April mit Aktionstagen für sozialen Widerstand, schwarz-rot versteht sich.

nils brock