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Die chinesische Regierung setzt angesichts wachsender sozialer Probleme auf Harmonie und Ausgleich. von volker häring, shanghai

China hat Probleme, die manch anderes Land gerne hätte. Mit 9,1 Prozent sei das Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr zu hoch gewesen, befand Premierminister Wen Jiabao. Die überhitzte Konjunktur drohe zu Schwankungen zwischen »Boom und Pleite« zu führen, für dieses Jahr wird deshalb ein Wachstum von sieben Prozent angestrebt.

Die Folgen der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung waren das zentrale Thema bei der diesjährigen Sitzung des Nationalen Volkskongresses, die am 14. März in Peking zu Ende ging. Das chinesische Parlament tagt nur einmal im Jahr. Während die konstituierende Sitzung der für fünf Jahre gewählten Abgeordneten im vergangenen Jahr großes Interesse bei den internationalen Medien hervorgerufen hatte, war die Aufmerksamkeit diesmal gering, denn es wurden keine Machtkämpfe in der chinesischen Führung erwartet. Dennoch traf der Volkskongress einige Entscheidungen, die richtungsweisend für die weitere Entwicklung der VR China sein können.

Mit der Aufnahme der Theorie der »drei Vertretungen« und des Schutzes des Privateigentums in die Verfassung verabschiedet sich die KPCh nun auch offiziell von den sozialistischen Positionen der Vergangenheit. Verstärkt wendet sie sich Kräften zu, die noch bis Mitte der neunziger Jahre als bourgeois und potenziell konterrevolutionär bezeichnet wurden.

Die vor allem vom ehemaligen Staatspräsidenten Jiang Zemin geförderte Theorie von den »drei Vertretungen« besagt, dass die KPCh die fortschrittlichen Produktivkräfte, die entwickelte Kultur und die fundamentalen Interessen der Mehrheit des chinesischen Volkes repräsentieren müsse. Im Klartext bedeutet sie, dass die KP sich nicht nur als Vertreterin der Arbeiter und Bauern, sondern auch der Privatunternehmer sieht, insofern diese zum wirtschaftlichen Aufbau und somit zum Aufbau des »Sozialismus« in China beitragen.

Der Schutz von rechtmäßig erworbenem Privateigentum hat nun Verfassungsrang. Die neu geschaffene Rechtssicherheit soll die Bedingungen für in- und ausländische Investoren weiter verbessern. Aber auch chinesische Privatunternehmen werden vor willkürlichen Enteignungen und ähnlichen Übergriffen vor allem lokaler Behörden abgeschirmt. »Menschen, die Reichtum schaffen, werden nun respektiert«, erläuterte der Abgeordnete Zong Qinghou. »Das wird die Leute dazu bringen, in Zukunft mehr Reichtum zu schaffen.«

Die Partei buhlt um die Gunst der inzwischen auf schätzungsweise 150 Millionen Menschen gewachsenen Mittelschicht. Derzeit werden 30 bis 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in China vom Privatsektor generiert. Einkommen und Preise in großen Städten wie Kanton, Peking oder Shanghai sind stark gestigen. Das Durchschnittseinkommen liegt in Peking inzwischen bei etwa 250 Dollar im Monat.

Anders sieht es in den meisten ländlichen Gebieten aus. Gerade in den westlichen und den zentralen Provinzen befindet sich die Wirtschaft vielerorts bestenfalls auf Subsistenzniveau. Der Gini-Koeffizient, ein statistisches Maß für Ungleichheit, stieg in der VR China zwischen 1978 und 2001 von 0,21 auf 0,46. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der Index bei 0,3 und in den USA bei 0,408. Die ökonomische Förderung von unterentwickelten Gebieten gehört nach Aussage des chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao zu den dringlichsten Aufgaben der chinesischen Regierung.

Bereits in den letzten zehn Jahren hat die Regierung mehrere Billionen Yuan in staatliche Infrastrukturmaßnahmen gesteckt. Diese Staatsinvestitionen tragen inzwischen jedoch zur konjunkturellen Überhitzung bei, während die staatlichen Finanzen nach Jahren einer Politik des deficit spending mehr als angespannt sind. Hinzu kommen weitere Belastungen, die hoch defizitäre Staatsbetriebe und ein angeschlagener staatlicher Bankensektor mit sich bringen.

Der Plan, die auf 500 Milliarden Dollar geschätzten faulen Kredite der chinesischen Staatsbanken mit Geldern aus den chinesischen Währungsreserven gegenzufinanzieren, trägt hier nicht unbedingt zur wirtschaftspolitischen Beruhigung bei. Zudem stützt sich das chinesische Wachstum zunehmend auf in- und ausländische Investitionen, während der private Konsum hinter den Erwartungen zurückbleibt. Auch der kaufkräftige Teil der chinesischen Bevölkerung ist in seinen Zukunftserwartungen skeptisch und übt sich angesichts einer erstmals seit den späten achtziger Jahren wieder zweistelligen Inflationsrate in den Städten in Konsumzurückhaltung.

Eine Aufwertung der Landeswährung würde zwar den Inflationsdruck nehmen, jedoch den für die wirtschaftliche Entwicklung in China immer noch essenziellen Export gefährden. Es verwundert somit nicht, dass der Premierminister Wen Jiabao eine Stärkung des chinesischen Binnenmarktes fordert und betont, dass die Probleme der chinesischen Wirtschaft nur im Inland gelöst werden können.

Auch die vom Volkskongress nicht thematisierten, immer wieder aufflammenden sozialen Proteste dürften der Regierung einige Sorge bereiten. Dass sie in die Verfassung aufgenommen wurden, erregte einiges Aufsehen. Seit der Gründung der VR China galten die Menschenrechte als bourgeoises Konzept des kapitalistischen Westens, das von der Regierung immer als politische Waffe zur Destabilisierung des Landes eingeschätzt wurde. Von diesem Standpunkt ist die chinesische Regierung nun offiziell abgerückt.

»Der Staat respektiert und bewahrt die Menschenrechte«, heißt es knapp. Ihre Achtung bedeute vor allem eine höhere Qualität der Gesetzgebung und deren Kontrolle, schreibt die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua. Menschenrechte im chinesischen Kontext bezögen sich vor allem auf den Schutz des Bürgers vor Willkür und den Übergriffen lokaler Behörden und Kader. Dies ist vor allem auf dem Land von Bedeutung, wo sich die Funktionäre seit dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik oftmals mit Phantasiesteuern und behördlicher Willkür auf Kosten der Landbevölkerung bereicherten.

Die Zulassung weiterer Parteien oder unabhängiger Gewerkschaften steht jedoch nicht zur Debatte. Die Regierung soll die Ungleichheit mildern; auch das Gebot sozialer Absicherung, wonach der Staat für den Aufbau von sozialen Sicherungssystemen zuständig ist, fand Eingang in die Verfassung. Damit setzt die chinesische Regierung einerseits die von ihren Vorgängern eingeleitete Politik der Integration der wirtschaftlichen Elite des Landes fort. Andererseits sieht sie die Notwendigkeit, sich stärker als zuvor den Benachteiligten des Reformprozesses zuzuwenden.

Angesichts der immer noch dringlichen aktuellen und strukturellen Probleme des Reformprozesses setzt die chinesische Führung demonstrativ auf Harmonie und administrative Gelassenheit. Die Entscheidungen des Nationalen Volkskongresses zielen auf Ausgleich in einem in den letzten Jahren ökonomisch und sozial zunehmend auseinander driftenden Land. Die Konflikte innerhalb der Partei, die über Jahrzehnte die Politik der Reformperiode bestimmten, scheinen weitgehend gelöst. Die chinesische Regierung wendet sich den wachsenden gesellschaftlichen Problemen zu und versucht zu verhindern, dass diese den im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern ökonomisch immer noch sehr erfolgreichen Reformprozess gefährden.