Europas Verfassungslos

Nach der erfolglosen Debatte über eine gemeinsame Verfassung befindet sich die EU in der größten Krise ihrer Geschichte. Die Chronik eines vorhersehbaren Scheiterns. von karin waringo, brüssel

Alles hatte zunächst gut angefangen: Vergangenen Freitag Punkt zwölf Uhr präsentierte der gut gelaunte italienische Premierminister Silvio Berlusconi den internationalen Pressevertretern die Ergebnisse der europäischen Ratstagung. Offensichtlich waren die einzelnen Punkte, darunter die europäische Wachstumsstrategie und eine neue gemeinsame Sicherheitsdoktrin, im Schnellverfahren verabschiedet worden, damit sich die Staats- und Regierungschefs dem zentralen Thema, der neuen europäischen Verfassung, zuwenden konnten. Doch mit jeder Stunde wuchs die Gewissheit, dass dieses Ansinnen möglicherweise scheitern würde.

Zum Wochenanfang hatten die europäischen Außenminister ein letztes Mal versucht, die Differenzen zwischen den einzelnen Positionen beizulegen. Wichtige Themen, wie die Grundlagen der gemeinsamen Wirtschaftsordnung oder die Rechte der Minderheiten, spielten in den Diskussionen keine Rolle. Nach dem Treffen Ende November in Neapel, bei dem die deutschen, französischen und britischen Vertreter ankündigten, künftig eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik zu machen, sorgte einzig die Aufnahme einer Beistandsklausel kurzfristig für eine kontroverse Debatte. Diese verpflichtet die EU-Mitgliedsstaaten, sich im Falle eines Angriffs gegenseitig zu unterstützen. Die Staaten mit einem neutralen Status, wie Schweden oder Österreich, zeigten sich davon wenig angetan.

In Brüssel hatten sich die Regierungsvertreter jedoch bereits nach wenigen Stunden hoffnungslos an der Frage der Stimmengewichtung im europäischen Rat festgebissen und die Verhandlungen auf ihre simpelste Grundlage zurückgeführt, die Frage der Macht. Wer wird zukünftig welchen Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse in einer erweiterten Union besitzen?

Im Dezember 2000 hatten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs und Außenminister der Mitgliedsstaaten in Nizza zusammengesetzt, um eine Reform der europäischen Institutionen auszuarbeiten und die Handlungsfähigkeit einer erweiterten Union mit 25 oder mehr Mitgliedern zu sichern. Bereits damals wurde das Klima durch die Querelen zwischen großen und kleinen Mitgliedsstaaten bestimmt, die an ihren alten oder vermeintlichen Rechten festhielten. Keine drei Jahre später zählt man den Gipfel von Nizza zu den Altlasten, die ein Fortkommen und einen erfolgreichen Ausgang der Verhandlungen in Brüssel schließlich verhinderten.

Nizza endete mit einer Stimmengewichtung im Rat, dem Ministergremium der Europäischen Union, die Frankreich und Deutschland gleichstellt und Spanien mit einem Abstand von nur zwei Stimmen zu einem nahezu gleichgewichtigen Partner macht. Die Mitglieder des Konvents griffen den damaligen Vorschlag der Kommission wieder auf, die Stimmengewichtung stärker an der Bevölkerungsgröße der jeweiligen Mitgliedsstaaten zu orientieren. Damit würde Spanien und, in Anlehnung daran, auch Polen annähernd die Hälfte seines Gewichts, das dem Land in Nizza zugesichert wurde, einbüßen und auf den Rang einer europäischen Mittelmacht zurückgestuft. Eine Vorstellung, der sich beide Länder seit Beginn der Verhandlungen Anfang Oktober widersetzten.

Um diese Differenzen auszuräumen schlug die italienische Präsidentschaft daher zunächst den Weg bilateraler Verhandlungen ein. Silvio Berlusconi hatte vor dem Gipfel, als die unvereinbaren Positionen immer deutlicher wurden und einige Mitgliedsstaaten bereits erklärt hatten, dass sie sich nicht mit einer Minimallösung zufrieden geben würden, angekündigt, das Treffen mit einer »Wunderlösung« doch noch retten zu können.

Doch die Beichtgespräche, wie die Verhandlungen im EU-Jargon genannt werden, brachten keinen Fortschritt, und das gemeinsame Abendessen am Freitag wurde abgesagt. Am Samstag blieb Berlusconi nichts anderes übrig, als die »vollkommene Uneinigkeit« der Gipfelteilnehmer festzustellen.

Die Nachricht des endgültigen Scheiterns der Gespräche war schon fast die absehbare Folge einer Atmosphäre, in der die undurchsichtige Verhandlungsführung das Misstrauen zwischen den Delegationen noch verstärkte. Am Ende wirkten die Teilnehmer fast erleichtert, als sie das Scheitern bekannt geben konnten. Immerhin kam es nicht zu dem befürchteten Kompromiss auf Mindestniveau. Zugleich schien auch die Dringlichkeit obsolet, die bis dahin angeführt wurde, um eine Verabschiedung der Verfassung noch in diesem Jahr zu erreichen.

Unter der irischen, vielleicht auch erst unter der darauffolgenden niederländischen Ratspräsidentschaft könnte es dann so weit sein. Nach Meinung des deutschen Außenministers Joseph Fischer sollte erst wieder ein Treffen stattfinden, wenn alle Schwierigkeiten beseitigt sind und der Vertrag unterzeichnet werden kann.

Nach dem Scheitern bemühten sich alle Teilnehmer zunächst um Schadensbegrenzung. Eine europäische Krise vielleicht, aber dafür noch längst nicht das Vorzeichen für ein eventuelles Auseinanderbrechen der Union. Der französische Staatspräsident Jacques Chirac hatte bereits am Tag zuvor gesagt, die Geschichte Europas sei eben keine Wanderpartie, sondern Europa habe sich von Krise zu Krise weiterentwickelt. Spaniens Ministerpräsident José Maria Aznar meinte gar, dass die »Union auch ohne eine Einigung über die Verfassung funktionieren wird«.

Vor allem aber versuchten die meisten Delegierten, Schuldzuweisungen zu vermeiden, auch gegenüber der italienischen Ratspräsidentschaft und ihrem Vorsitzenden Berlusconi, der, wie gewohnt, versucht hatte, die Atmosphäre durch Witze aufzulockern.

Bundeskanzler Gerhard Schröder stellte fest, dass die Bedingungen für einen Erfolg zum jetzigen Zeitpunkt objektiv nicht vorhanden gewesen seien. Auch gegenüber Spanien und Polen zeigte man sich versöhnlich. Mit der Haltung »Nizza oder der Tod« hatte die polnische Regierung den Ton festgelegt. Spaniens Vertreter traktierten die internationalen Stellungnahmen, in denen jedes Abweichen gegenüber der Stimmenverteilung von Nizza als inakzeptabel bezeichnet wurde. Schröder äußerte ein gewissens Verständnis dafür, dass einige Länder zum jetzigen Zeitpunkt »nicht anders konnten oder wollten«.

Die alten Mitgliedsstaaten nutzten die Gelegenheit, um sich als die wahren Europäer, die die Vision der Gründer voranbringen wollten, zu profilieren. Frankreich dränge auf eine Einigung, die seiner Vision Europas entspreche, gab Chirac zum Auftakt bekannt. Schröder forderte ein Europa, in dem die nationalen Befindlichkeiten gegenüber den gemeinsamen europäischen Interessen zurücktreten. Dass sich beide Länder erst kürzlich über die Vorgaben des Stabilitätspaktes hinweggesetzt haben, fand Chirac unwesentlich. Die wirtschaftliche Lage sei eben schlecht.

Am vergangenen Samstagabend machte die Idee eines Kerneuropas wieder die Runde, für Schröder eine Konsequenz aus dem Scheitern, auch wenn er sich um vorsichtige Formulierungen bemühte. Chirac sprach von einer Gruppe von Pionierländern, die Europa schneller voranbringen könnte.

Die Verantwortung gegenüber den Bürgern wurde offensichtlich in Brüssel mehr zum Schein bemüht. Erst kürzlich belegte eine Umfrage, dass nicht mal ein Drittel aller Europäer über den Entwurf einer europäischen Verfassung informiert sind.