Zeuge für alles

Vor dem Berliner Landgericht findet ein merkwürdiger Prozess statt. Levent Ö. tritt gleichzeitig als Nebenkläger gegen Polizeibeamte auf, die ihn verprügelt haben sollen, und als Angeklagter. von andreas schug

Was bedeutet es, wenn jemand einen Staatsmann vor Gericht überführen will, sich aber im gleichen Prozess wegen Widerstands gegen die Staatsmacht rechtfertigen muss? »Mundtot machen« könnte man das nennen. Ein vergleichbarer Fall, bloß mit einem Staatsbeamten an der Stelle des Staatsmannes, wird dieser Tage in Berlin verhandelt.

Vor dem Landgericht tritt der 44jährige Filmemacher, Kameramann und Mediendozent Levent Ö. als Ankläger gegen die Polizeibeamten auf, die ihn vor über drei Jahren verprügelt und dabei lebensgefährlich verletzt haben sollen. Zugleich prozessiert die Staatsanwaltschaft gegen ihn, weil er gegen die Vollstreckungsbeamten Widerstand geleistet habe. Sein Fall ist sogar im Jahresbericht 2003 von amnesty international dokumentiert.

In der Nacht zum 14. Mai 2000 feierte Levent Ö. mit FreundInnen eine Party. Ein Nachbar, der sich gestört fühlte, rief die Polizei, so dass kurz darauf vier Beamte vor seiner Tür standen. Weil die Musik bereits abgestellt war und ein richterlicher Durchsuchungsbefehl fehlte, forderte Ö. die Beamten auf, seine Wohnung zu verlassen und verlangte die Dienstnummer des Einsatzleiters. Von einer Beschwerde war auch die Rede.

Der türkische Migrant mit deutschem Pass ging im guten Glauben, auf seinen Bürgerrechten bestehen zu können, mit zum Dienstwagen. Auf der Höhe eines voll besetzten Cafés griff jedoch einer der Polizisten nach Darstellung von Levent Ö. nach dem Zettel mit der Dienstnummer, den Ö. festhielt. Ö. schloss aber die Hand, woraufhin zwei der Begleiter seine Arme auf den Rücken drehten. Zeugen berichteten, dass die Polizisten ihn mit voller Wucht mit dem Gesicht auf das Straßenpflaster stießen und dass weitere Tritte und Schläge folgten.

Die Misshandlungen waren so rücksichtslos, dass sich ein Besucher des Cafés genötigt sah, die Polizei zu rufen. Levent Ö. wurde mit einer offenen Nasenbeinfraktur in das Kreuzberger Urban-Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte veranlassten wegen der lebensgefährlichen Verletzungen sofort eine Notoperation. Dokumentiert sind eine klaffende Wunde genau zwischen den Augen, Würgemale am Hals, sowie Blutergüsse und Prellungen am ganzen Körper.

Die Folgen der Misshandlung spürt Levent Ö. bis heute. Der Vorfall hat bei ihm die Erinnerungen an die Militärdiktatur in der Türkei, während der er politisch verfolgt wurde, wieder wachgerufen. Er ist traumatisiert. Die Beweglichkeit seines linken Arms ist eingeschränkt, so dass er nicht mehr als Kameramann arbeiten kann, und sein Geruchssinn ist gestört, weil die Nerven an der Nasenwurzel nicht richtig zusammengewachsen sind. Die Gerichtsprozesse, von denen es nun schon drei gab, wühlen die Erinnerungen jedesmal von Neuem auf.

Sofort nach der Nacht im Mai erstattete die Polizei Anzeige, weil er sich gegen die Beamten zur Wehr gesetzt haben soll. Doch das Amtsgericht Tiergarten sprach Levent Ö. im Juni 2001 in allen Anklagepunkten – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung und Körperverletzung – frei. Auch ein weiterer Mann, der sich freiwillig als Zeuge gemeldet hatte und dem die Polizei ebenfalls Widerstand vorwarf, wurde freigesprochen.

Erst im Dezember des vergangenen Jahres folgte der Prozess gegen zwei der Polizisten wegen gefährlicher Körperverletzung. Der Einsatzleiter wurde zu sieben Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Danach legten beide Seiten Berufung ein: der Einsatzleiter Bernd O. gegen das erstaunlich deutliche Urteil, und die Anwältin von Ö., weil nur einer der Polizisten zur Rechenschaft gezogen wurde.

Am Mittwoch, dem 29. Oktober, soll Levent Ö. eine Prozesserfahrung ganz neuer Art machen. Die 72. kleine Strafkammer des Landgerichts Berlin hat die Anklagen beider Seiten zusammengeführt, so dass der Misshandelte zugleich als Nebenkläger gegen zwei Polizisten und als Angeklagter wegen Widerstands und Beleidigung vorgeladen ist.

Der Fraktionsvorsitzende der Grünen und ehemalige Berliner Justizsenator, Wolfgang Wieland, spricht von einem »bis dato unbekannten Phänomen«. Levent Ö. müsse »als gespaltene Persönlichkeit« unvereinbare Prozessrollen einnehmen. Einerseits muss er darauf achten, dass seine Aussagen nicht gegen ihn zu verwenden sind, und andererseits ist er ein wichtiger Zeuge für die Beschreibung des Tathergangs.

Nach Angaben des Sprechers des Landgerichts, Björn Retzlaff, sollen die beiden Polizeibeamten und Levent Ö. allesamt als Angeklagte im Gerichtssaal sitzen. Die Aussagen eines Angeklagten wiegen weniger schwer als die eines Zeugen, weil ein Zeuge zur Wahrheit verpflichtet ist. Ein Angeklagter hingegen darf lügen oder die Aussage verweigern. Zu allem Überdruss ist die Möglichkeit des Filmemachers, die Polizeibeamten als Nebenkläger argumentativ herauszufordern, in einer solchen Konstellation stark eingeschränkt.

Für Wieland ist es »unvorstellbar, dass so etwas als rechtsstaatliches Verfahren durchgehen kann«. Auch der Vorsitzende des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, Wolfgang Kaleck, sieht in dem Doppelprozess des Landgerichts eine »absurde Konstruktion«, die zum Scheitern verurteilt ist. Levent Ö.s Anwältin, Beate Böhler, legte beim Kammergericht Beschwerde gegen die skurrile Prozesskombination ein. Der zuständige vierte Strafsenat wies den Einspruch aber zurück.

Die Richter lassen es darauf ankommen. Landgerichtssprecher Björn Retzlaff, für den die unterschiedlichen Prozessrollen des Anklägers und des Angeklagten eine »Formalie« sind, fand zeitgemäße Argumente dafür, dass die beiden Anklagen nicht getrennt bleiben. Die Konstruktion der 72. kleinen Strafkammer biete die Möglichkeit, für zwei Verfahren nur eine Beweisaufnahme durchzuführen, womit sich viel Geld sparen lasse. Die Zusammenführung mehrerer Verfahren sei zudem nicht ungewöhnlich, bloß seien die Beteiligten diesmal »gegeneinander zu Werke gegangen«. Es gebe einen »einheitlichen Sachverhalt«, denn die beiden Polizisten und Levent Ö. seien in das gleiche »Gerangel« verwickelt gewesen. Konkrete Beispiele für einen Prozess, in dem eine Person gleichzeitig mit ihren mutmaßlichen Peinigern vor Gericht stand, konnte Retzlaff jedoch nicht nennen.

Wolfgang Wieland kommentierte, das Gericht sehe womöglich nicht den Unterschied zwischen einer Anklage gegen drei mutmaßliche Räuber, die zusammen eine Tankstelle überfallen haben sollen, und zwei Anklagen, die miteinander nicht vereinbar sind. Als »Problem« erkannt hat Retzlaff immerhin, dass derselbe Staatsanwalt zwei Anklagepositionen vertreten muss, die einander ausschließen.

Die Verhandlung findet im Landgericht Berlin, Turmstraße 91, Raum B129, am 29. Oktober, 31. Oktober und 5. November, jeweils um 9 Uhr statt.