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Knapp 20 minderjährige Flüchtlinge treffen jeden Monat in Berlin ein. Ihre Eltern wollen, dass sie es besser haben. Das gelingt nicht unbedingt. von silke kettelhake

Sie kommen alleine oder mit ihren Geschwistern. Ihr Ziel ist Berlin. Meist haben ihre Eltern sie ins Flugzeug gesetzt oder ein Vermögen an kriminelle Schlepperorganisationen bezahlt. Die Kinder sollen es einmal besser haben.

»Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge« heißen sie im Amtsjargon. Doch dem Leiter der Ausländerbehörde, Harald Bösch-Soleil, ist das nicht präzis genug.»Das sind illegal eingereiste Asylsuchende. Die erste Bezeichnung impliziert eine Rechtsqualität, die so nicht gegeben ist. Da bin ich Verwaltungsmensch.« In der UN-Kinderrechtskonvention, am 26. Januar 1990 von der BRD unterzeichnet, heißt es: »Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, (…) ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.«

Gerade Kinder und Jugendliche geraten in den Krisengebieten der Welt häufig zwischen die Fronten, leiden unter Folter, Prostitution oder Sklaverei, haben keine Chance auf ein lebenswertes Leben. Weltweit sind 1,5 Millionen Kinderflüchtlinge unterwegs. Ungefähr 15 bis 20 Jugendliche und Kinder landen monatlich in Berlin, meist verliert sich ihre Spur. Niemand weiß, wie viele von ihnen bleiben, wie viele wieder abgeschoben werden.

Aussicht auf Sicherheit und eine menschenwürdige Behandlung haben die wenigsten – auch und gerade in Deutschland. Mit dem Asylantrag beginnt oft eine Reihe von Schikanen und Verunsicherungen. Ab 16 Jahre gelten Jugendliche im Asylverfahren als mündig und müssen mit den gleichen Konsequenzen wie Erwachsene rechnen. Sie werden in der ganzen Republik verteilt und müssen ihren Asylantrag eigenständig stellen.

Pfarrer Dieter Ziebarth (63) ist Seelsorger in Deutschlands größtem Abschiebegefängnis. Der kleine, agile Mann betreut nicht nur die Gefangenen in Berlin-Köpenick, er begleitet sie auch als Rechtsbeistand durch die Verfahren. Frauen und Männer, Jugendliche, die noch halbe Kinder sind, sitzen monatelang bis zu ihrer Abschiebung in Haft, nur weil sie ohne Geld und ohne Pass auf der Straße geschnappt wurden. »Wenn man sich mit diesen Dingen beschäftigt, sieht man dieses Land mit anderen Augen. Ich kann nicht mehr wegsehen«, sagt Ziebarth.

Sicher, nach 28 Selbstmordversuchen, den Selbstverletzungen und Hungerstreiks im Frühjahr dieses Jahres sind einige Verbesserungen festzustellen. Zum Beispiel wurde die dicke Panzerglastrennscheibe im Besucherraum abgebaut. Aber die Angst der Flüchtlinge ist nicht geringer geworden, weiß Ziebarth: »Manchmal fühlt man sich bei einer Abschiebung wie bei einer Hinrichtung.« Wer in die Türkei abgeschoben werde und dort eine mehrjährige Gefängnisstrafe zu erwarten habe, der wisse, dass es sehr schwierig ist, sie unter Krankheiten und Folter zu überstehen.

Dietmar Ziebarth hofft und bangt mit den Betroffenen während ihrer Verfahren. Nach seiner Erfahrung erkennt das Gericht die meisten Dokumente nicht an, da werde behauptet, es handele sich um Fälschungen. Die Fragen der Behörden seien voller Hürden und Fallen: »Sagt ein Flüchtling aus, er sei auf dem Landweg gekommen, muss er ein so genanntes sicheres Drittland passiert haben, dahin kann er wieder abgeschoben werden, wenn er dort aktenkundig wurde.«

B. aus Sierra Leone kam allein nach Berlin, mit dem Flugzeug, ohne Papiere. Sein Alter wurde vom Amtsarzt auf 19 Jahre geschätzt, doch B. sagt, er sei 15. Saß also ein Kind monatelang in der Abschiebehaft? Harald Bösch-Soleil von der Berliner Ausländerbehörde erklärt: »Wenn jemand sagt, er ist 15, dann wird er auch so behandelt. Sicher, die Zweifel werden offen gelegt: Die Altersbestimmung liegt dann im Ermessen des Gerichts. Häufig ist aber das geringe Alter eine Schutzbehauptung.«

Ziebarth begleitete auch B. als Rechtsbeistand. Bei Fragen zur Person würden von der Ausländerbehörde überall deutsche Verhältnisse vorausgesetzt, sagt Ziebarth: »Wann sind Sie zuletzt gemeldet gewesen und wo?« Melden, fragt sich B., was ist denn das? Er hat mit seiner Familie auf dem Land im Dorf gewohnt, da gibt es keine Meldestelle. »Das wird vom Gericht nicht anerkannt, da heißt es, der Flüchtling verweigere böswillig die Mitarbeit«, erzählt Ziebarth.

B. saß neun Monate in Haft, aufgrund fehlender Papiere konnte er nicht abgeschoben werden. Er erhielt von der Ausländerbehörde eine Duldung. Aufgrund fehlender Papiere verweigert ihm das Sozialamt seit einem Monat die Unterstützung. Seitdem lebt B. auf der Straße, Freunde helfen ihm. Immer wieder ruft er bei Ziebarth an. Der Seelsorger hat ein Verfahren beim Verwaltungsamt angestrengt, bis zum Urteil können Wochen vergehen.

»Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge« dürfen nicht arbeiten. Während des Asylverfahrens dürfen sie eine Ausbildung oder ein Studium beginnen, sofern der Ausbildungsplatz in ihrem Residenzbereich liegen. Eigentlich sollen sie nichts als warten.

Im Treppenhaus des Betreuungszentrums für junge Flüchtlinge und Migranten, kurz BBZ, riecht es nach Fischstäbchen. Die Gruppe um Ibrahim und Haznyie trifft sich in Moabit zum Kochen. Für die residenzpflichtigen Jugendlichen, die alleine aus den Krisengebieten der ganzen Welt nach Berlin kamen, ist der Zusammenhalt in der Gruppe immens wichtig. Sie leben in Heimen und kleinen Wohnungen über die Stadt verteilt. Der Gang zur Ausländerbehörde im sechsmonatigen Rhythmus ist jedes Mal eine Zitterpartie.

Haznyie ist 19 Jahre alt. Vor acht Jahren setzten ihre Eltern sie und ihre zwei Geschwister ins Flugzeug nach Deutschland. Das verzeiht sie ihren Eltern bis heute nicht. Vor zwei Wochen erhielt sie nach einer fünfstündigen Verhandlung ihren Abschiebungsbescheid. Die Begründung der Behörde: Sie sei nicht in der Lage, selbstständig für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Wie auch, wenn sie nicht arbeiten darf? Haznyie möchte gerne Altenpflegerin werden. Aber sie glaubt nicht mehr daran, dass ihr das gelingen wird. Das Beschwerdeverfahren gegen die Abschiebung läuft, doch es schützt sie nicht vor einer Ausweisung.

Über die Hälfte ihres Lebens hat Haznyie in Berlin verbracht. Ohne Make-up geht die sehr gepflegt auftretende junge Frau nicht aus dem Haus. Die Großstadt ist ihr vertraut. Die Vorstellung, nach Kurdistan zu gehen und ihr Berliner Leben gegen ein aufgezwungenes Familienleben eintauschen zu müssen, ist ihr ein Gräuel. Die Antworten der sonst lebhaften und lebenslustigen Frau sind leise und verhalten. Zu ihrer Familie ist seit Jahren der Kontakt abgebrochen. Eine dicke Träne verschmiert ihre Wimperntusche. Die Fischstäbchen rührt sie nicht an.

Ibrahim ist seit neun Jahren in Deutschland. Sein Vater wurde in der Türkei verhaftet, auch er ist Kurde. »Ich bin allein mit dem Flugzeug gekommen, da war ich zwölf Jahre alt. Alles, was ich wusste, war, dass ich meine Eltern eine lange Zeit nicht sehen werde. Heute kann ich mich kaum noch an sie erinnern. Damals habe ich gar nicht begriffen, worum es ging. Das war schrecklich, aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Ab und zu telefoniere ich mit meiner Mutter.«

Gleich nach seiner Ankunft am Flughafen Tegel kam Ibrahim ins Heim. Nach und nach lernte er die deutsche Sprache. Dann folgte betreutes Jugendwohnen, und jetzt hat er endlich eine eigene Wohnung. Nach neun Jahren allein in Deutschland denkt er trotzdem oft an seine Familie in Urfa.

Auf die Frage, ob er rückblickend die Entscheidung seiner Eltern gutheißt, blickt Ibrahim im kargen Raum der Beratungsstelle umher: Büromöbel, Postkarten, Aktenordner. Durch das Fenster scheint die Abendsonne und taucht das Zimmer in ein unwirkliches, glutrotes Licht. Keine Antwort.

An eine Verbesserung der Lebenssituation in den Bergen Kurdistans glaubt er nicht: »Es bleibt alles sehr ungewiss. Hier in Berlin lebe ich allein. Nichts in Aussicht.« Vor zwei Jahren hat er Abitur gemacht. Am liebsten würde er Jura studieren. Sich mit anderen treffen, überlegen, was man machen kann. Ibrahim engagiert sich stark in der Bleiberechtkampagne. »Wenn du immer nur gesagt bekommst: Du bist nichts wert, wir wollen dich nicht, du bist der letzte Dreck, dann glaubst du es irgendwann. Ich wünsche mir endlich wieder Frieden. Das darf nicht länger nur ein Traum sein, Gerechtigkeit und Freiheit zu leben.« Er hofft, als Anwalt Menschen helfen zu können, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie er. »Da kann ich für die Gerechtigkeit kämpfen.« Dass Gerechtigkeit ein dehnbarer Begriff ist, hat Ibrahim schnell gelernt im Umgang mit den Behörden.

Die Betreuungssituation in Berlin ist, im Vergleich zu anderen Bundesländern, relativ umfassend. »Selbstmelder« oder polizeilich »Zugeführte« kommen in die so genannte Clearingstelle in Berlin-Pankow, »aus allen Ländern, in denen es Fluchtgründe gibt«, sagt eine Mitarbeiterin. Hier werden ihre Personalien aufgenommen, hier wird das »Ruhen der elterlichen Sorge« festgestellt. 15 bis 20 neue Fälle hat die Behörde im Auftrag des Landes Berlin monatlich zu bearbeiten. Das Vormundschaftsgericht bestellt einen Amtsvormund, der vom jeweiligen Bezirksamt bezahlt wird. Bis zu 50 Schützlinge betreut der Amtsvormund bei den aufwändigen Ämtergängen. Einige Jugendliche haben das Glück, eine Betreuung durch einen ehrenamtlichen Einzelvormund zu erfahren.

Das Geld ist knapp, die Jugendhilfe in Berlin wird jährlich um drei Prozent gekürzt, auch beim BBZ. Die Arbeit des auch von der Europäischen Union und von terre des hommes geförderten Betreuungs- und Beratungszentrums ist davon vorerst nicht gefährdet. Etwa 300 Jugendliche erhalten hier praktische Lebenshilfe: Bei Fragen des Ausländer- und Asylrechts, in der Schule und der Ausbildung, bei psychologischen Schwierigkeiten helfen ein Sozialarbeiter, eine Sozialpädagogin und eine Psychologin.

Ibrahim und Haznyie haben die Jahre ihrer Pubertät in Berlin erlebt, sie sprechen perfekt deutsch, sie denken deutsch, sie träumen deutsch. Berlin ist ihr Zuhause.