Im Kern Europas

EU-Verfassungskonferenz in Rom von anton landgraf

Es soll ein großer Wurf werden, ein Vertrag, der alles Bisherige in den Schatten stellt. In Rom entscheidet die Verfassungskonferenz über die künftige politische Ordnung in Europa. Damit die Union auch nach der Ost-Erweiterung handlungsfähig bleibt, sieht der Entwurf eine grundsätzliche neue Machtverteilung vor. Demnach sollen künftig im Konvent Mehrheitsentscheidungen mit 60 Prozent der Stimmen erfolgen. Gleichzeitig soll es weiterhin nur zehn Kommissare geben, obwohl die Union mittlerweile 25 Mitgliedsstaaten umfasst.

Von dem Vorschlag profitieren die bevölkerungsreichen Länder – vor allem Deutschland, aber auch Frankreich und Großbritannien. Die Verlierer sind die kleineren Länder, allen voran Spanien und Polen. In dem Vertrag von Nizza, der bislang die Mehrheitsverhältnisse regelte, hatten diese Staaten fast so viel Einfluss wie die großen Mitglieder. Davon bleibt nicht viel übrig.

Spaniens Ministerpräsident José Maria Aznar hat zwar schon »harte Verhandlungen« angekündigt. Doch selbst wenn es ihm gelingt, einige Konzessionen durchzusetzen – denkbar wäre etwa eine Sperrminorität –, müssen die Kleinen am Ende die Vorlage akzeptieren. Die Alternative wäre die faktische Paralyse der Union. Und daran ist auch den Kritikern nicht gelegen.

Gut möglich also, dass im November, wenn die Verhandlungen abgeschlossen werden sollen, die Union sich in einer Form präsentiert, die dem »Kerneuropa-Konzept« sehr nahe kommt. Der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble und der frühere außenpolitische Sprecher der CDU, Karl Lamers, entwarfen diese Vorstellung bereits in den neunziger Jahren. Kurz nach seinem Amtsantritt bezog sich dann Außenminister Joseph Fischer auf »Kerneuropa«, und auch Bundeskanzler Gerhard Schröders »Europa-Vision« basierte auf dieser Konzeption. »Vordringlich ist, dass es ein Kerneuropa von Ländern gibt (…), die (…) eine Art Gravitationszentrum bilden und dadurch die Richtung der Entwicklung bestimmen«, hat Lamers in der aktuellen Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik die Idee noch einmal zusammengefasst.

Demzufolge bilden Deutschland und Frankreich in Abstimmung mit Großbritannien den Kern der Union. Der viel zitierte »deutsch-französische Motor« bildet den Antrieb des gesamten EU-Projekts und legt auch fest, wohin die Reise geht. Dann folgt lange nichts. Erst mit großem Abstand läuft die zweite Garnitur der EU mit Polen und Spanien dem Führungsgespann hinterher. Dann folgen die restlichen Neuzugänge aus dem Osten und weit entfernt am Horizont macht sich die Türkei auf den Weg.

Ähnliches hatte bereits lange vor Lamers ein anderen Politiker gefordert. Der französische Präsident Charles de Gaulle propagierte in den fünfziger Jahren eine eigenständige europäische Macht. Daraus wurde freilich nichts, der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer zog angesichts des Kalten Kriegs die Allianz mit den USA vor.

Doch die Aussöhnung mit Frankreich ermöglichte die Integration Deutschlands in die EU und den damit verbundenen Aufstieg zu neuer Souveränität. Vermutlich hat keiner der damaligen Politiker gedacht, dass sich erst ein halbes Jahrhundert später diese Vorstellungen realisieren lassen. Nun ist es greifbar nahe: ein von den USA unabhängiges Europa, in dem Berlin und Paris den Ton angeben.