Die Schatten bleiben

Thomas Blatt ist einer der letzten Überlebenden des Häftlingsaufstands in Sobibór vor 60 Jahren. Bis heute kämpft er darum, die Erinnerung wach zu halten. von markus götte

Ihre Asche liegt verstreut in sieben Massengräbern, das größte halb so groß wie ein Fußballfeld. Ein paar Tassen, Messer und Gabeln haben Archäologen bei Ausgrabungen gefunden. Das ist übrig geblieben von 250 000 jüdischen Menschen, die die deutschen Nationalsozialisten im Vernichtungslager Sobibór ermordeten.

Sobibór, das sind heute eine Holzverladestation und ein paar Dutzend Häuser in Polens Osten. Die Baracken und die Gaskammern hat die SS zerstört, um ihre Spuren zu verwischen. Allein die frühere Bahnrampe gibt es noch und ein altes grünes Holzhaus. Einst hieß es »Schwalbennest« und war die Villa des SS-Kommandanten. Im Garten flattern heute Bettlaken im Wind.

Daneben steht ein Blockhaus neueren Baujahrs mit einem Parkplatz davor – das kleine Museum. Dort wartet Thomas Blatt. Einer der letzten Überlebenden des Häftlingsaufstands in Sobibór. Vor 60 Jahren, am 14. Oktober 1943, griffen er und die anderen jüdischen Häftlinge die SS-Männer mit Äxten und Messern an.

Thomas Blatt ist klein und sieht aus wie ein jung gebliebener Opa. Sommersprossen, getönte Brillengläser, rotbraun gefärbte Haare, Lederjacke. Allein der schlurfende Gang und die langsamen Handbewegungen verraten den 76jährigen, wenn er der deutschen Reisegruppe das ehemalige SS-Sonderkommando zeigt. Mit 15 Jahren wird er mit seinen Eltern und seinem Bruder in einem Lkw hierher gebracht. Sie müssen ins Gas. Er wird aber von dem SS-Mann Frenzel zum Weiterleben aussortiert: »Komm her, mein Kleiner, du wirst meine Schuhe putzen!« Schuhputzer wurde er dann doch nicht. Im Lager riefen sie ihn »Feuerwehrmann«, weil er Ausweise und Papiere der Ermordeten verbrennen musste.

Vom Aufstand erzählt Thomas Blatt nicht selbst. Er zeigt Ausschnitte aus »Flucht aus Sobibór«, einem Spielfilm von 1987 mit Rutger Hauer in der Hauptrolle. Ein wenig Stolz schwingt mit, wenn er schildert, wie er bei den Dreharbeiten Regisseur und Schauspieler beraten und alles erklärt hat. Wie sie nacheinander fast ein Dutzend SS-Leute in die Falle lockten, mit Messern erstachen oder mit Äxten erschlugen.

Im Fernseher kracht es. Fliehende treten auf Minen und werden in der Luft zerrissen. Thomas Blatt, oder vielmehr sein Darsteller im Film, bleibt im Stacheldraht hängen und geht zu Boden. Flüchtende trampeln in Panik über ihn hinweg. Sekunden später sterben sie im Minenfeld, das das Lager Sobibór umgibt. Als Blatt sich endlich wieder aufrappeln kann, ist sein Fluchtweg frei. »Überleben«, sagt er, »war Glücksache!« Zusammen mit 300 anderen erreicht er den nahen Wald. Jedoch nur 53 von ihnen erleben das Kriegsende. Alle anderen werden von der SS aufgespürt, von antisemitischen Partisanen oder Bauern umgebracht. Auch er wird beinahe von einem Bauern getötet. Noch heute steckt dessen Kugel in seiner Kinnlade.

Vor dem kleinen Museum ist es nur im Zigarettenqualm auszuhalten. Mücken bohren ihre Rüssel durch Jeans und Hemd. Thomas Blatt scheinen sie nichts zu tun. »Die kennen mich von früher«, scherzt er und holt gut gelaunt ein abgegriffenes Fotoalbum aus seiner Tasche. Er mit Jane Fonda und mit Rutger Hauer, der im Sobibór-Film den Anführer des Aufstandes spielt. Dann Blatt mit dem Papst und Blatt am Tisch mit einem unbekannten Mann. »Da, das ist der Frenzel, der SS-Mann.« Schnappschüsse aus seinem Leben nach dem Überleben, das vom Kampf gegen das Vergessen bestimmt wird.

Dieser zweite Kampf beginnt damit, dass Thomas Blatt im Nachkriegspolen seinen jüdischen Namen ändert und schließlich 1957 seine Heimat verlässt. Erst geht er nach Israel und von dort in die USA, wo er noch heute lebt. Es ist die Zeit in Polen, in der jüdische Grabsteine zum Straßen- und Hausbau verwendet werden. Und eine Gedenktafel in Sobibór enthüllt wird, auf der es heißt: »Hier wurden 250 000 sowjetische Kriegsgefangene, Juden, Polen und Zigeuner ermordet.«

Als Blatt Jahrzehnte später Sobibór besucht, ist er sprachlos vor Wut: »Das kleine Museum hier war früher ein Kindergarten, und die Kleinen spielten auf Massengräbern.« Zudem hatte der Kapuziner-Orden eine Kapelle auf dem Lagergelände gebaut – im Andenken an die Opfer. »Außer der SS ist hier kein Christ ums Leben gekommen«, schimpft Blatt. Damals stritt er an vielen Fronten. In Polen gegen das Establishment und Deutschland gegen die Nazis. So war er 1983 Zeuge der Anklage im Prozess gegen Karl Frenzel, SS-Oberscharführer in Sobibór. In einer Prozesspause traf er den Massenmörder. »Am Ende des Gesprächs bat er mich um Entschuldigung, um Entschuldigung für 250 000.« In Polen beschlich ihn damals das Gefühl, niemand würde diese viertel Million Juden, von denen ja die meisten Polen waren, überhaupt vermissen.

Doch der Film »Flucht aus Sobibór« gibt ihm Rückenwind für sein Gedenkprojekt. Neben Jane Fonda gewinnt er einflussreiche Politiker und prominente jüdische Intellektuelle in den USA. Sie alle sollen sich einsetzen für die Einrichtung einer Gedenkstätte in Sobibór. »Sieben Jahre und Verhandlungen mit drei polnischen Regierungen hat es mich gekostet.« Endlich werden im Oktober 1993 anlässlich des 50. Jahrestags des Aufstandes in einer Gedenkfeier die korrigierten Gedenktafeln enthüllt und aus dem Kindergarten wird ein kleines Museum. Einzig sein Besuch beim Papst war erfolglos. Die Kapelle steht bis heute.

Ein Mitarbeiter des Museums ruft Thomas Blatt. Eine Lehrerin sei am Telefon. Sie möchte ihn in ihre Schule einladen. Auch dort soll er erzählen. Deutsche Bildungsreisende, amerikanische Schüler und Studenten sind längst nicht mehr so wichtig für ihn. Polens Jugend ist seine neue Zielgruppe. Früher musste er sich noch selber einladen. Früher hatten sie Angst vor ihm in Polen, vor seinen bohrenden Fragen und anklagenden Worten. Heute lesen junge Leute seine Autobiographie »Nur die Schatten bleiben« auf Polnisch.

»Ein Junge kam nach einer Lesung in meinem Geburtsort Izbica hinter mir hergerannt und wollte von mir wissen, was seine Großeltern ihm aus der Zeit des Holocaust verschwiegen haben.« Das macht ihn sichtlich froh. Ältere dagegen ignoriert er, wenn sie sich beschweren, dass er sich nicht bedankt habe bei christlichen Polen, die ihm halfen zu überleben. Sechs Polen hat er namentlich in seinem Buch erwähnt. Mehr waren es nicht.

Obwohl er in Seattle (USA) wohnt, fliegt Blatt häufig nach Polen, besucht Izbica und natürlich Sobibór. In wenigen Tagen, zum 60. Jahrestag des Aufstandes, will er wieder dort sein und eine Gedenkallee für die bis heute ungenannt gebliebenen 250 000 Opfer einweihen. Entlang ihrem Weg zur Gaskammer sollen Bäume gepflanzt und Steine mit den Namen der Ermordeten gesetzt werden. Hinter der anonymen Masse der Opfer sollen endlich wieder persönliche Schicksale sichtbar werden. Dazu müssen Namen und Biographien recherchiert und in einem Gedenkbuch gesammelt werden. Da das Museum Sobibór kaum sich selber finanzieren kann, ist das Projekt auf private Spenden angewiesen. Bisher reichen die Gelder nur für ein erstes Teilstück der Gedenkallee – 50 Meter.

Mehr Informationen zum Gedenkprojekt: www.bildungswerk-ks.de oder Bildungswerk Stanislaw Hantz e.V., Dörnbergstraße 12, 34119 Kassel.