O’zapft is!

Berliner Oktoberfest

Ein kleiner Kühlschrank, der leer ist, sieht putzig aus, ein großer aber wirkt bedrohlich. Warum einkaufen, denken sich viele aus dem Umfeld der Macht, schließlich kann man sich jeden Abend irgendwo umsonst durchfuttern. Etwa beim Auftakt des Oktoberfestes im Löwenbräu-Zelt vor dem Roten Rathaus.

Zehn Tage vor der Wahl in Bayern folgen rund 2 500 geladene Gäste der Einladung der Bayerischen Landesvertretung und der Brauerei in ein blauweiß geschmücktes Festzelt, vor dem ein riesiger Löwe aus Pappmaché sich brüllend die Kante gibt.

»Liebes Publikum, liebe Preußen«, begrüßen Reinhold Bocklet (CSU), der bayerische Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten, und der Vorstandsvorsitzende von Löwenbräu, Jobst Kayser-Eichberg, die Anwesenden und entschuldigen Edmund Stoiber, der an diesem Tage »in Kempten weilt, da er sein Wahlergebnis noch etwas verbessern will«. Bocklet sticht mit drei Hieben das erste Fass an. Die Münchner Wiesn-Sinfoniker spielen auf, und das kollektive, kostenlose Besäufnis beginnt.

Die Stimmung im Zelt steigt mit dem Promillegehalt der Gäste. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering, der CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer und sein Kollege von der CSU, Thomas Goppel, Saarlands Ministerpräsident Peter Müller und Bundesfamilienministerin Renate Schmidt amüsieren sich bestens, und Bundesinnenminister Otto Schily bekommt vom Hausherrn Bocklet ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift »Schatzi für Dich« überreicht.

Auch der bayerische Spitzenkandidat der SPD, Franz Maget, ist anwesend. Er unterbricht seinen Wahlkampf, um seelische Streicheleinheiten von seinen Genossen zu bekommen. Selbst Peter Hausmann (CSU), einst Kohls Pressesprecher, klopft Maget verständnisvoll auf die Schulter.

Echte Münchner Wiesn-Kellnerinnen versorgen die Anwesenden fürsorglich mit frischem Bier in Maßkrügen. Das sorgt für Druck, gemeinsam mit altgedienten, sehr trinkfreudigen ARD-Journalisten steht man in der Schlange vor dem Sanitärbereich und leidet. Für die Damen gibt es gratis Haarspray und Kosmetikartikel zum Auffrischen.

Nach dem »Bayerischen Defiliermarsch« spielen die Sinfoniker die »Berliner Luft«, unterbrochen vom »Oans, zwoa, drei, g’suffa« des Moderators. Georg Friedrich Prinz von Preußen und Leopold Prinz von Bayern versuchen, gemeinsam den Taktstock zu führen.

Auf der Wiesn da gibt’s koa Sünd: Man macht neue Bekanntschaften. Ein Berliner Teppichhändler will eine junge Dame seines Herzens »auf einen Drink« zu sich in seine Villa entführen. Doch die Aussicht auf eine Teppichluder-Karriere wirkt abschreckend auf sie.

Am Ende bedienen sich die Gäste noch einmal hemmungslos an den Ständen, hier ein Dutzend Lebkuchenherzen, dort ein paar Tüten mit gerösteten Mandeln abgreifen, kostet ja nichts. Dreist stibitzt man noch einen Stofflöwen vom Nachbartisch, und schwankend geht es ab in die Nacht, wo die Fahrbereitschaft, der Firmenchauffeur oder die entnervte Ehefrau warten.

peer bruch