Verblasste Feindbilder

Der Einfluss der Militärs auf die türkische Politik ist erheblich zurückgegangen. Ausgerechnet die frommen Konservativen sorgen für eine Demokratisierung.

Der August war über Jahrzehnte der Monat, in dem sich in der Türkei die Wahrsager in der Politik tummeln konnten. Im August kommen nämlich die Spitzen des türkischen Militärs zusammen und entscheiden in kleiner exklusiver Gesellschaft, welche Generäle befördert und welche pensioniert werden. Die türkischen Ministerpräsidenten durften zwar an der Runde teilnehmen, mitbestimmen konnten sie allerdings kaum. Nach den Entscheidungen des Hohen Militärischen Rates traten dann die Wahrsager auf den Plan. Wenn Journalisten zusammentrafen, hörte man Sätze wie: »Der neue Generalstabschef ist ein Falke. Wenn die Regierung nicht pariert, gibt es ein Memorandum oder gar einen Putsch.«

All dies gehört der Vergangenheit an. Zwar haben die türkischen Medien auch in diesem Jahr ausführlich über die Sitzungen des Hohen Militärischen Rates berichtet. Doch Spekulationen, der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan sei von den Spitzenmilitärs beschimpft worden, werden nicht mehr ernst genommen. So zitierte die Tageszeitung Cumhuriyet eine angebliche Rede des Generals Cetin Dogan: »Herr Ministerpräsident, ich kenne ihr Ziel. Sie versuchen, den türkischen Streitkräften ihren Einfluss zu nehmen. Doch Sie werden vom türkischen Volk zur Rechenschaft gezogen werden. Falls notwendig, werden die Armee und die Nation Hand in Hand arbeiten.« Doch vermutlich war der Wunsch der Vater des Gedankens. »Ich muss wohl geschlafen haben«, lächelte der türkische Verteidigungsminister Vecdi Gönül, als er darauf angesprochen wurde.

Die Kräfteverhältnisse in der Türkei haben sich grundlegend verschoben, der Einfluss der Militärs auf die Politik ist erheblich zurückgedrängt worden. Ende Juli haben zwei wichtige Gesetzespakete das Parlament passiert. So wurden im Sinne der politischen Kriterien, die die EU für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stellt, die Gesetze reformiert. Die Kompetenzen des nationalen Sicherheitsrates, eines Gremiums, das nach dem Militärputsch von 1980 institutionalisiert worden war und in welchem die Militärs die Richtlinien der Politik ausgaben, wurden zurechtgestutzt.

Der nationale Sicherheitsrat verfügte über ein Generalsekretariat, das wie ein Staat im Staate außerhalb demokratischer Kontrolle exekutive Aufgaben wahrnahm. Selbst bei Fragen über den Unterricht in kurdischer Sprache mischte einst das Generalsekretariat mit. Durch das neue Gesetz wurden diese Befugnisse erheblich eingeschränkt. Der nationale Sicherheitsrat darf nur noch »empfehlen« und tritt nur noch alle zwei Monate zusammen.

Die Militärausgaben werden der Kontrolle des Rechnungshofes unterworfen. Zivilisten, die die türkische Armee angriffen, konnten früher vor Militärgerichten angeklagt werden. Auch dies ist mit dem jüngsten Gesetzespaket abgeschafft. Wegen vage formulierter Terrorismus-Gesetze konnten bislang Regimekritiker angeklagt und verurteilt werden. Auch diesem Zustand ist mit neuen Gesetzen ein Riegel vorgeschoben. Nur bei ausdrücklichem »Aufruf zur Gewalt« ist eine Bestrafung möglich. Auch das Demonstrations- und Organisationsrecht wurde weitgehend liberalisiert. Die Gesetze, mit denen man gegen Folter vorgehen kann, wurden verschärft. Der für die Erweiterung zuständige EU-Kommissar Günter Verheugen war entzückt, und die Financial Times sprach von einer »stillen Revolution«.

Begleitet wurden die Demokratisierungsbemühungen von einem Gesetz, das bis auf die Führungsspitze faktisch alle Mitglieder der kurdischen Guerillaorganisation PKK (der heutigen KADEK) amnestiert. Des »Gesetz zur gesellschaftlichen Reintegration« trat am Mittwoch vergangener Woche in Kraft. Bereits einen Tag später teilte Innenminister Abdulkadir Aksu mit, dass sich 111 Mitglieder der Organisation gestellt hätten. Zudem meldeten sich angeblich 333 im Gefängnis einsitzende PKK-Mitglieder, um von dem Amnestiegesetz zu profitieren. Die Hoffnung der Falken, dass der türkische Staatspräsident sein Veto gegen die Gesetze einlegen werde, um den Status quo zu erhalten, erfüllte sich nicht. Jetzt plant die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) sogar, im Herbst undemokratische Passagen der Verfassung zu streichen.

In den Augen des Westens galt über lange Zeit die Armee als Garantin stabiler Verhältnisse in der Türkei. 1980 wurde der Militärputsch von den USA, aber auch von europäischen Staaten unterstützt. Der Antikommunismus, die Verfolgung religiös-autokratischer Bewegungen und kurdischer Sezessionsbestrebungen gehörten und gehören zum Selbstverständnis des Militärs. Die Brutalität, mit der die Streitkräfte nach 1980 vor allem gegen die Linke und die Kurden vorgingen, sollte nicht vertuschen, dass die Putschisten in weiten Kreisen der Bevölkerung auch mit politischer Zustimmung rechnen konnten. Heute haben sich die Feindbilder, die die Legitimation sicherstellten, in Luft aufgelöst.

Von einer »kommunistischen Bedrohung« ist nicht mehr die Rede, die PKK hat eine empfindliche militärische Niederlage hinnehmen müssen, und in den vergangenen Jahren sind die Verbote, die sich gegen die kulturelle Identität der Kurden richteten, aufgehoben worden. Die Hauptströmung des politischen Islam, einst geführt von dem Politiker Necmettin Erbakan, hat sich gewandelt. Von einem Umsturz des säkularen Verfassungssystems ist nicht mehr die Rede.

Diejenigen, die einst für religiöse Inhalte in der Politik stritten, haben sich assimiliert. Die Voraussetzung für den überwältigenden Wahlsieg der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung im vergangenen November war, dass sie das Image einer religiösen Partei über Bord warf und sich zu einer typischen, konservativen »Volkspartei« entwickelte. Es war auch die bittere Enttäuschung der Wähler über die etablierten Parteien, die nur im Schatten von Generälen und Geheimdienstlern agierten, die ihr den Wahlsieg bescherte.

Doch die türkische Gesellschaft ist seit dem Sieg der AKP nicht nach rechts, sondern nach links gerückt. Es ist ein Streich der Geschichte, dass gerade die frommen Konservativen binnen acht Monaten den größten Demokratisierungsschub zu Wege brachten. Der Beitritt der Türkei zur EU wurde von der AKP zur politischen Priorität erhoben. So gewann sie die Zustimmung der Bevölkerung und schmälerte den Aktionsradius der außerparlamentarischen Machtzentren wie etwa des Militärs.

Bislang geht die AKP auch weitgehend einer Konfrontation mit den traditionell säkularen, antireligiösen Mittelschichten aus dem Weg. Doch der Koordinatenwechsel in der Politik führte auch dazu, dass der Einfluss von NGO wächst, die die Demokratisierungsschritte des Parlaments unterstützen und alle religiösen Inhalte in der Politik bekämpfen.

Die Auseinandersetzung zwischen Parlament und den Militärs ist entschieden – nicht zuletzt wegen der Weigerung der Türkei, den USA Militärbasen für den Krieg im Irak zur Verfügung zu stellen. Die Regierung und die Militärs befürworteten die Stationierung, doch die Abgeordneten, einschließlich unzähliger AKP-Mitglieder, machten ihnen im März einen Strich durch die Rechnung. Die US-Administration ließ keinen Zweifel daran, dass sie vor allem das Militär für diese Niederlage verantwortlich machte, weil es nicht entschlossen genug aufgetreten sei. Schwierige Zeiten für die türkischen Generäle.

Auch die USA müssen sich in jüngs-ter Zeit daran gewöhnen, dass sie in der Türkei nicht über das Parlament und die Regierung hinweg Politik betreiben können. Die Entscheidung darüber, ob es, wie die USA wünschen, zu einem Einsatz türkischer Soldaten im Irak kommt, wird der AKP nicht leicht fallen.