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Israel hat zur »Vertrauensbildung« 334 palästinensische Gefangene entlassen.

Der fünfjährige Rami liegt hinter dem Sofa und presst sein Gesicht in ein besticktes Kissen. Auch mit seiner Lieblingsschokolade ist er nicht hervorzulocken. Rami schämt sich. Gerade hat sein Vater amüsiert und auch ein wenig stolz erzählt, wie die Aufregung den am Checkpoint wartenden Rami übermannte und er Minuten vor dem Wiedersehen mit dem Vater die Kontrolle über seine Blase verlor. »Als ich meinen großen Sohn dann zum ersten Mal nach zwei Jahren auf den Arm nahm, stank er genau wie früher«, lacht der Vater und Rami strampelt vor lauter Verlegenheit wild mit den Beinen.

Zwei Jahre hat M. seinen Rami, seine Frau und seine drei Töchter nicht gesehen. Er befand sich in israelischer Administrativhaft. Warum er festgenommen wurde, hat M. bis heute nicht erfahren. Was die Richter dazu verleitete, ihn gegen Ende der sechsmonatigen Haftperioden vorsichtshalber immer wieder für weitere sechs Monate ins Gefängnis zu schicken, auch nicht.

»Nach dreimaliger Verlängerung sollten sie doch genug belastendes Material gefunden haben, um mir den Prozess zu machen«, meint M. »Aber dass ›keine Beweise‹ vielleicht auch ›keine Schuld‹ bedeuten, hat sich bei den Israelis noch nicht herumgesprochen.«

M. gehört zu den 334 Häftlingen, die Israel am Mittwoch vergangener Woche als »vertrauensbildende Maßnahme« freigelassen hat. Viel Vertrauen haben die Entlassungen allerdings nicht geschaffen. Stattdessen wird die Aktion in den besetzten Gebieten als Trick Israels angesehen, der vor allem die USA besänftigen und die internationalen Medien täuschen soll. Wie M. stand ein Drittel der Gefangenen sowieso kurz vor dem Ende der Haftzeit. Zudem hatten die Palästinenser auf Massenentlassungen in einer ganz anderen Größenordnung gehofft. Von »zwei- bis dreitausend Gefangenen« sprach Sicherheitsminister Mohammed Dahlan und versuchte, US-Präsident George W. Bush von der Notwendigkeit eines solchen Schrittes zur Stärkung von Ministerpräsident Mahmoud Abbas zu überzeugen.

Doch nicht zuletzt die kategorische Weigerung der Palästinenserführung, gegen die terroristischen Organisationen vorzugehen, hat in Jerusalem bei der Auswahl der Gefangenen zu besonderer Vorsicht geführt. So halten beide Parteien sich jetzt gegenseitig ihre Versäumnisse vor und führen einen Medienkrieg darum, wer an der derzeitigen Stagnation des Friedensprozesses die Schuld trägt.

Während M. davon erzählt, wie israelische Soldaten ihn aufgefordert hätten, seiner Freude vor den Kameras freien Lauf zu lassen, berichtet seine Frau von einem anonymen Anruf, in dem sie ermahnt wurde, ihre Freude zu zügeln. »Schließlich trauern wir gleichzeitig um die noch immer in zionistischen Gefängnissen darbenden Brüder«, so der unbekannte Mann am Telefon.

M. jedenfalls ist froh, wieder bei seiner Familie zu sein. Nach einigen Tagen Wiedersehensfreude möchte er vor allem wieder zur Arbeit. Er ist Grundschullehrer in einem Dorf 13 Kilometer südlich von Bethlehem. Um an seinem ersten Tag pünktlich dort einzutreffen, plant er eine Reisezeit von vier Stunden ein. »Das könnte etwas zu viel sein. Aber bei den vielen Checkpoints weiß man nie, und im schlimmsten Fall muss ich eben über den nächsten Hügel laufen.«

»Immerhin findet der Unterricht wieder statt«, wirft seine Frau ein. »Es war schrecklich in Zeiten der ewigen Ausgangssperren, ohne meinen Mann die Kinder im Haus unterhalten zu müssen. Rami ist irgendwann einfach heimlich zum Spielen nach draußen geschlichen. Ich hatte wahnsinnige Angst um ihn!« Wie die überwältigende Mehrheit der Palästinenser unterstützen M. und seine Frau den derzeitigen Waffenstillstand: »Der Markt ist jetzt täglich offen, der Müll wird wieder regelmäßig abgeholt, und die Kinder können draußen spielen. Wir sind in den letzten drei Jahren anspruchslos geworden. Arafat und seine Kumpane haben uns immer belogen und das Blaue vom Himmel versprochen. Das tut Abu Mazen nicht. Doch an diese neue Realität müssen viele Palästinenser sich erst gewöhnen.«

Dann spricht M. von den Knackpunkten des Konfliktes, der notwendigen Teilung Jerusalems, der Evakuierung eines Großteils der israelischen Siedlungen und einer realistischen Lösung des Flüchtlingsproblems. Auch M. hat von der Umfrage eines palästinensischen Meinungsforschers gehört, die überraschenderweise ergab, dass nur zehn Prozent von allen Flüchtlingen und deren Nachkommen tatsächlich von einem Recht auf Rückkehr nach Israel Gebrauch machen wollen. »Eine Lösung des Problems ist also gar nicht so unmöglich, wie alle immer behaupten. Doch anstatt den Tatsachen ins Auge zu sehen, wird der betreffende Meinungsforscher mit Eiern beworfen.« Er schüttelt den Kopf. Die Haft scheint seinem Willen zur Aussöhnung nichts angehabt zu haben.

Es ist Zeit für die Abendnachrichten. Und das gleich zweimal. Zunächst im palästinensischen Fernsehen auf Arabisch, dann die israelische Version auf Hebräisch. Wenigstens um Hebräisch zu lernen, habe er die Zeit im Gefängnis nutzen können, berichtet M. Einer seiner Bewacher habe ihm heimlich Zigaretten zugesteckt und seine Übungszettel korrigiert. Auch Rami soll die Sprache des Feindes erlernen. »Auf Dauer werden wir zusammenarbeiten müssen. Da können Hebräischkenntnisse nur hilfreich sein.«

Die arabischen Nachrichten berichten ausführlich von einer israelischen Militäraktion im Flüchtlingslager Asker bei Nablus im Westjordanland. Soldaten hätten ein Privathaus angegriffen und mit einer Rakete in die Luft gesprengt. Dabei seien Zivilisten und zwei Angehörige der Hamas ums Leben gekommen. Im israelischen Fernsehen dreht sich dagegen alles um den Soldaten, der dabei ebenfalls sein Leben lassen musste. In der israelischen Version wurde aus dem Haus das Feuer auf die Soldaten eröffnet, die schossen zurück und lösten dadurch einen Sprengsatz in dem mutmaßlichen Sprengstofflabor aus.

Wie auch immer. Während ein israelischer Offizier warnt, die Hamas werde den Waffenstillstand nur zur Reorganisation und Wiederbewaffnung nutzen, und Verteidigungsminister Shaul Mofaz verspricht, im September selbst die »Zerschlagung« der terroristischen Organisationen übernehmen zu wollen, kündigen militante Mitglieder der Hamas die Wiederaufnahme der Anschläge auf israelische Ziele an. Ob sie diese Position durchsetzen können, ist fragwürdig. Der Hamas-Sprecher Abu Schanab mahnte im Gazastreifen zwar, Israel trage »die volle Verantwortung für die Folgen, die sich ergeben könnten«, doch bei einer Unterstützung von über 70 Prozent für den Waffenstillstand wird die Hamas-Führung es sich zweimal überlegen, ob sie sich so offen gegen den Willen der nach einer Ruhepause lechzenden Mehrheit stellen will.

M. beunruhigt jetzt eine andere Meldung: Angehörige der Al-Aksa-Märtyrerbrigaden haben einen der entlassenen Gefangenen auf dem Marktplatz von Ramallah regelrecht hingerichtet. Der junge Mann soll mit den Israelis kollaboriert haben. »Das ist die palästinensische Variante der Administrativhaft. Sie brauchen keine Beweise und keinen Prozess. Ein Schuss, und du bist tot.« Dann bittet er mich, seinen wirklichen Namen im Text lieber nicht zu nennen.