Nestor Kirchner Superstar

Seit seinem Vorgehen gegen ehemalige Juntaoffiziere wächst die Sympathie für den neuen argentinischen Präsidenten. von jessica zeller

Argentiniens Präsident Nestor Kirchner kann zufrieden sein. Umfragen zufolge unterstützen 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung seine Politik, obwohl die »clase política« noch vor gar nicht so langer Zeit mit der Aufforderung, dass alle abhauen sollten, bestraft wurde.

Die Ursache für die Beliebtheitswerte, von denen andere Politiker nur träumen können, ist sein Versuch, die Amnestiegesetze vom Ende der achtziger Jahre, die bis heute die Verantwortlichen der Militärdiktatur (1976 bis 1983) vor dem Prozess bewahren, für verfassungswidrig zu erklären. »Meine Geschichtsauffassung ist Gerechtigkeit und Erinnerung. Ich bin immer gegen Begnadigung, das ›Schlusspunktgesetz‹ und das ›Befehlsnotstandsgesetz‹ gewesen«, erklärte Kirchner, der in den siebziger Jahren dem linken Flügel der Peronisten angehörte, vor gut einer Woche der kritischen argentinischen Tageszeitung Pagina 12.

Kirchner, der Ende Juli ein Dekret seines Amtvorgängers Fernando de la Rúa für ungültig erklärte, das die Auslieferung von Militärs an ausländische Ankläger verhinderte, betonte außerdem, dass alles in die Wege geleitet werden müsse, damit die Militärs vor argentinische Gerichte gestellt werden könnten. Dazu sagte Irina Hauser, eine Redakteurin von Pagina 12, der Jungle World: »Die Regierung möchte zeigen, dass auch in Argentinien Verurteilungen möglich sind, damit das Land der Blamage entgeht, keine funktionierende Justiz hervorzubringen.« Sie fügt hinzu: »Was Kirchner betrifft, so macht er viele Sachen, die wir uns erhofft haben.« Auch ihr Kollege Juan Castro Oliviera vom konservativen Blatt La Nación zeigt sich zufrieden: »Niemand will, dass die Militärs straffrei ausgehen. Und wenn sich hier kein juristischer Weg ergibt, dann bleibt immer noch die Möglichkeit, die hohen Militärs nach Europa auszuliefern.«

Will Kirchner seine Vorstellungen durchsetzen, so hat er einen politischen Hindernislauf vor sich. Sein Hauptgegner ist dabei der Oberste Gerichtshof, in dem die Anhänger des ehemaligen Präsidenten Carlos Menem noch immer die Mehrheit haben. Menem ergänzte die bereits unter seinem Amtsvorgänger Raúl Alfonsín verabschiedeten Amnestiegesetze Anfang der neunziger Jahre durch umfangreiche Be-gnadigungen, obwohl sich über 70 Prozent der Argentinier damals dagegen aussprachen. Erst wenn die obersten Richter die Amnestiegesetze für verfassungswidrig erklären, kann etwa 1 000 bisher nicht verurteilten Militärs der Prozess gemacht werden. Die Begnadigungen, die von Menem verfügt wurden, sind nicht revidierbar.

Also versucht die Regierung, zuallererst die Zusammensetzung des Obersten Gerichts zu ändern. Der Gerichtspräsident und enge Freund Menems Julio Nazareno trat im Zuge eines parlamentarischen Prozesses gegen ihn vor einem Monat freiwillig zurück. Nunmehr ist der Richter Eduardo Moliné O’Connor an der Reihe. Gegen ihn wird ebenfalls wegen Befangenheit und Korruption ermittelt. Noch verweigert er seinen Rücktritt, es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass die Vorwürfe ausreichen, um seine Ersetzung zu erzwingen.

Trotzdem sind die Aussichten für eine Stimmenmehrheit, um die Straffreiheit zu beenden, zumindest bis September, wenn der designierte Nachfolger Nazarenos, Eduardo Raúl Zaffaroni, sein Amt antritt, recht ungünstig. Zaffaroni, der der Menschenrechtsbewegung nahe steht, könnte die ausschlaggebende fünfte Stimme bei einem Votum der neun Richter bringen. Erst am Dienstag vergangener Woche verkündete der Interimspräsident des Gerichtshofes, Carlos Fayt, nach einer fünfstündigen Sitzung der Richter, dass man sich von der Regierung nicht unter Druck setzen lasse und »die für nötig erachtete Zeit« selber bestimmen wolle.

Jedenfalls will das Gericht mit einer Entscheidung warten, bis Zaffaroni sein Amt antritt. Will Kirchner also eine Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit der Amnestiegesetze auf juristischem Weg erwirken, braucht er Geduld. Dies wäre insofern ein politischer Balanceakt zwischen nationaler Justiz und internationalen Zugeständnissen, als es dann zu einer zeitlichen Überschneidung mit dem Auslieferungsgesuch des spanischen Ermittlungsrichters Baltasar Garzón käme, der seine Aufforderung innerhalb dieses Monats einreichen muss. Wahrscheinlich ist, dass Kirchner diesem Gesuch zumindest in einzelnen Fällen erst stattgeben wird, wenn die Richter sich für die Verfassungskonformität der Amnestiegesetze ausgesprochen haben; Garzón wiederum drängt auf erste Auslieferungen spätestens im September.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass das argentinische Parlament die Amnestiegesetze annulliert. Allerdings bemerkt der Verfassungsrechtler Gregorio Badeni: »Der Kongress muss in diesem Fall die Rechtsmängel der Gesetze, die er für ungültig erklären will, klar darlegen. Er muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass nicht im Nachhinein seine eigene Maßnahme für verfassungswidrig erklärt wird.«

Auch andere politische Maßnahmen, die Kirchner in seiner erst knapp dreimonatigen Amtszeit in die Wege geleitet hat, müssen sich erst noch bewähren. Seine Entscheidung, im Prozess um den Anschlag auf die israelische Botschaft und das jüdische Sozialzentrum die Akten des Geheimdienstes zu öffnen, ist zwar ermutigend. Ob die bisher vorenthaltenen Informationen jedoch den Tatvorgang klären, über den seit zehn Jahren ohne Erfolg ermittelt wird, ist jedoch fraglich.

Andere Themen, insbesondere wirtschaftspolitische, werden im öffentlichen Diskurs weitgehend ausgeblendet. Zwar ist der Wechselkurs des Peso zum Dollar stabil, und auch andere wirtschaftliche Daten Argentiniens weisen in eine positive Richtung. Die Verhandlungen mit dem IWF über ein neues Hilfsprogramm, die Ende September zu einem Abschluss kommen sollen, sind jedoch an Sparmaßnahmen und Finanzreformen gekoppelt, die den argentinischen Staat zu sozialpolitischen Verteilungsmaßnahmen kaum fähig machen werden.

So sieht das linke Bündnis Colectivo Situaciones zwar in der progressiven rechtsstaatlichen Politik Kirchners einen Erfolg langer gesellschaftlicher Kämpfe und eine Wendung im Vergleich zu früherer staatlicher Politik. Es erklärte jedoch auch: »Die ökonomische und soziale Situation bleibt bestehen. Zwar gibt es derzeit kaum Proteste, die Leute warten eher ab, ob ihre Themen auftauchen. Das kann sich aber schnell ändern. Denn dass Kirchner die Armut bekämpfen kann, erscheint uns, selbst wenn er es wollte, als unrealistisch.«