Lieber deutsch
als modern

Die Abschottungspolitik der Bundesrepublik hat die Krise verschärft. Dennoch müssen Migranten und Arme als Sündenböcke herhalten. von winfried rust

Ich sehe keine Impulse am Horizont. Für 2003 gibt es kaum Hoffnungen«, prognostiziert der Wirtschaftsprofessor Oliver Landmann dem europäischen »Schlusslicht Deutschland«. Zwar stieg der Geschäftsklimaindex des Ifo-Instituts im Juli zum dritten Mal in Folge, und der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Michael Rogowski, sah schon Ende Mai die »Talsohle erreicht«. Belegen lässt sich der gefühlte bevorstehende Aufschwung jedoch noch nicht.

Deutschlands Wirtschaftskrise scheint gravierender zu sein als die anderer wohlhabender Länder und spezifisch ausgeprägt. Mehr nicht, denn die Krise ist weltweit bemerkbar. In einem Land, in dem die Produktivität und das Bruttoinlandsprodukt kontinuierlich wachsen, drohen keine argentinischen Verhältnisse. Deutschland spielt nach wie vor in der ersten Liga, macht dort aber keine gute Figur.

Die knappen Analysen und Gegenrezepte ähneln sich in vielen Ländern: Ist genügend dereguliert worden oder muss die Nachfrage gestärkt werden? Spezifisch für Deutschland ist ein zweites Konfliktfeld. Die Abschottungspolitik sei an der stärkeren Ausprägung der Krise schuld, argumentieren Arbeitgeber und Reformlinke und widersprechen damit dem Volksempfinden.

Ja, was ist aus dem schönen Wirtschaftswunderland geworden? Erst die Ärmel hochgekrempelt und wieder wer geworden, und dann sich selbst im Weg gestanden. Zwar entwickelte sich eine schon pathologisch hohe Produktivität, und Deutschland gilt als Exportweltmeister, aber im Zeitalter der Globalisierung ist nur an der Spitze, wer die internationale Konkurrenz mit internationalen Mitteln schlägt. Dafür bedarf es der Flexibilität und der Offenheit. Scheinbar spielerisch statt kämpferisch agierende Akteure haben heute die Nase vorn.

Das alte korporatistische Denken bewahrte sich die Bundesrepublik stets. Lange Zeit galt der soziale Friede als spezifisch deutscher Standortvorteil zwischen streikenden Italienern, Franzosen und Engländern. Ludwig Erhard stellte fest: »Wir brauchen die verpflichtende Hingabe an das Staatsganze.« Der Aufschwung während der fordistischen Phase bis zur Krise von 1973 war so modern wie nötig und so deutsch wie möglich: Hier lebt man, um zu arbeiten.

Ebenfalls 1973 erfolgte der Anwerbestopp so genannter Gastarbeiter. Die »verpflichtende Hingabe ans Staatsganze« allein reichte nicht mehr aus. Heute allerdings reicht auch das Deutschsein nicht mehr, um ökonomisch an der Weltspitze zu stehen. Mit seiner Primärtugend »Arbeitseifer« anstelle von Modernität schneidet Deutschland zum Beispiel in der Konkurrenz um internationale Computerfachleute schlecht ab.

Rechtspopulistische Kampagnen wie Jürgen Rüttgers’ »Kinder statt Inder« begleiteten die halbherzige Einführung der Greencard für ausländische Facharbeiter am 1. August 2000. Den Inhabern der Greencards muss vom hiesigen Arbeitsamt bescheinigt werden, dass sie »nützlich« sind und eine Arbeitsmarktlücke stopfen, während ein längerer Aufenthalt oder der Nachzug der Familie nicht erwünscht sind. Kein Wunder, dass die Offerte schlecht angenommen wurde. Innovative Chaoten, Facharbeiter, Spezialisten, Programmierer, junge Menschen auf der Suche nach einem tollen, erfüllten Leben machen weiterhin einen Bogen um die Bundesrepublik. Der Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt musste »Schwierigkeiten bei der Anwerbung dringend benötigter Fachkräfte« eingestehen, obwohl bislang nach Angaben des Wirtschaftsministeriums 15 000 Greencards ausgestellt wurden.

Die Krise seit den neunziger Jahren scheint durch die Abschottungspolitik verschärft zu werden. Auch ausländische Wissenschaftler finden in anderen Ländern bessere Bedingungen vor, Stellen im Niedriglohnsektor bleiben offen, die Sozialbeiträge stagnieren, die Überalterung schreitet voran. Deshalb drängen Wirtschaft und Liberale schon lange auf eine großzügigere Zuwanderungspolitik. »Ich warne auch davor, die arbeitsmarktorientierte Zuwanderung weiter einzuschränken und zu bürokratisieren«, sagt Hundt.

Aus Sicht der Wirtschaft bedeutet Zuwanderung mehr Arbeitskräfte und mehr Konsum. Sozialwissenschaftler betonen die innovativen wirtschaftlichen Impulse, die von einer erneuerten Sozialstruktur ausgehen könnten. Doch in Deutschland wird die zynische Rede vom »nützlichen Ausländer« oft zurückgewiesen, weil die Landsleute diese zwei Begriffe einfach nicht zusammenkriegen.

Die staatliche Logik, nach der es vor allem darum ging, durch Ausgrenzung unnütze Esser fernzuhalten, verkehrte sich in ihr Gegenteil. Das Nein zur produktiven Durchmischung ist zu einem handfesten Standortnachteil geworden, der nur teilweise durch Deutschlands nachhaltige Integration in die internationalen Wirtschaftsbeziehungen aufgefangen wird. So profitiert das Land von der Einbindung in den erweiterten EU-Binnenmarkt mit seinen 120 Millionen neuen VerbraucherInnen.

In der Krise werden die Verteilungskämpfe, eine Begleiterscheinung kapitalistischer Vergesellschaftung, härter. Menschen aus anderen Ländern sind als Konkurrenz um Arbeitsplätze oder gar um staatliche Leistungen besonders unwillkommen. Angesichts der Überakkumulation und sinkender Gewinne, sinkender Produktion und sinkender Löhne stellt sich noch dringlicher die Frage, wer die offenen Reproduktionskosten tragen soll.

Wegen des Abbaus des Sozialstaats befürchtet die Mehrheit der Bevölkerung, mehr einzuzahlen als herauszubekommen. Was eine Staatskritik sein könnte, macht sich in der Entsolidarisierung von den Unterschichten bemerkbar, die in der Vergangenheit, je nach Konjunktur, als ausländische Banden, Drogendealer, Bettler, Schleuser, Asylanten oder Faulenzer stigmatisiert wurden. An die Stelle von Bezeichnungen wie »Benachteiligte« oder »sozial Schwache« rückt die »Gewinner-Verlierer«-Rhetorik, die für den Ungleichheitstheoretiker Sighard Neckel einen Paradigmenwechsel im »Kampf um Zugehörigkeit« ausdrückt. »Die Zugehörigkeit endet beim Misserfolg, der ebenso persönlich vorwerfbar wie sozial ausschließend ist.« Kurz: Wer verliert, ist draußen.

In diesem Diskurs schwindet die gesellschaftliche Verantwortung der Gruppe der »sozial Stärkeren«. Die übernommene Konkurrenzlogik immunisiert die Wohlanständigen gegen die Einsicht in die ordnungspolitische Rationalität, dass staatliche Fürsorge den komfortablen sozialen Frieden und die Reproduktion kapitalistischer Vergesellschaftung gewährleistet.

Im Ergebnis ist eine gesellschaftliche Entsolidarisierungsoffensive zu verzeichnen, in deren Verlauf immer mehr Menschen materiell und sozial unter bisherige Standards gedrückt werden. Der Vorschlag von Linkskeynesianern, nach unten umzuverteilen, weil das Geld der Armen unmittelbar in den Konsum fließt und somit die Nachfrage erhöht, während die Steuergewinne der Reichen vor allem der Vermögensbildung dienen, kommt in diesem Klima schlecht an. Die Krise scheint den Armen einen neuen Wert zuzugestehen – als Sündenböcke. Der verächtliche Blick auf die »Versager« sorgt dafür, dass sich die Arbeitsplatzbesitzenden weiterhin mit ihrem Joch in der Arbeitsgesellschaft zu identifizieren haben, obwohl in ihrem Alltag alles dagegen spricht, dies zu tun. Auf den »Faulenzer« lässt sich die Angst vor dem eigenen »Scheitern« übertragen, das in der Krise nahe liegt.

Denn wenn man für die Arbeit lebt, »die Ausländer« für die Arbeit gekommen sind und nun die Arbeit in der Krise ist, was bleibt zu tun? Das mit den Ausländern, das kann der Deutsche ja lassen, aber das Leben? Geht weiter!