Die Festung schwimmt

Um die illegale Einwanderung über das Mittelmeer effektiver zu bekämpfen, will Italien das EU-Embargo gegenüber Libyen lockern. von karin waringo, brüssel

In Njaba Kunda im Norden Gambias trauern Angehörige um Alhagie und Saikou Jaiteh. Die beiden Männer gehörten zu jenen 200 Menschen, die vor sechs Wochen beim Versuch, die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa zu erreichen, ertrunken sind. »Landsleute sterben beim Erreichen der Festung Europa«, titelte der gambische Independent vor vier Wochen und ließ einen Verwandten der beiden zu Wort kommen: »Es ist ein Spiel um Leben und Tod, und unsere Freunde fanden den Tod.« Eine Woche nach der Schiffskatastrophe reiste der italienische Innenminister Giuseppe Pisanu nach Tripolis und wurde handelseinig, jedenfalls fast. Die libyschen Machthaber lehnen es zwar weiterhin ab, dass Italien libysche Grenzen kontrolliert, wollen aber sonst alles in ihrer Macht Stehende tun, um »illegale« Wanderbewegungen über Libyen in die EU zu unterbinden.

Libyen, wo die Unglücksfähre vermutlich losgefahren ist, ist eines der Haupttransitländer für »illegale« Einwanderer in die EU geworden. In den vergangenen Monaten habe die Zahl derjenigen, die ihr Glück in Libyen versuchen, stark zugenommen, sagen Experten. Dies sei die Folge einer zumindest in Teilen erfolgreichen Politik der Abschottung, wobei die EU-Staaten ihre Nachbarn zu Vorposten degradieren, die ihr die Einwanderungskontrolle abnehmen.

Die Kontrolle der Migrationsbewegungen gehört heute zu den Standardvoraussetzungen, die Länder erfüllen müssen, die institutionelle Beziehungen mit der EU unterhalten wollen. Nach den Beschlüssen des europäischen Gipfels in Thessaloniki wird die Wiederaufnahme »illegaler« EinwandererInnen, die über diese Länder eingereist sind, als weiteres Element hinzukommen. Wegen der UN-Sanktionen blieb Libyen allerdings aus dem 1995 lancierten »Barcelonaprozess«, der den Rahmen für die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen der EU und den Mittelmeerstaaten bietet, ausgeschlossen. Folglich kann die libysche Regierung weiterhin souverän entscheiden, wen sie unter welchen Bedingungen in ihr Land hinein- und wieder hinauslässt, ohne sich um die Anliegen der EU zu scheren. Daher scheint es heute so, als ob die EU eher als Libyen an der Aufnahme institutioneller Beziehungen interessiert sei.

Allerdings bereitet der libysche Machthaber Oberst Muammar al-Gaddafi seit einiger Zeit eine Wiederaufnahme seines Landes in die internationale Staatengemeinschaft vor. Die Planwirtschaft gilt nicht mehr als einzig mögliche Wirtschaftsform, von einem Beitritt zur Welthandelsorganisation ist gar die Rede. Bei seinen Gesprächen mit Vertretern europäischer Regierungen und der EU deutete al-Gaddafi offenbar die Bereitschaft an, an der Bekämpfung der »illegalen« Einwanderung mitzuwirken, deren Opfer Libyen sei. Allerdings bedauerte er, dass ihm die Mittel fehlten, wirksam gegen Einwanderung vorzugehen.

Italien verstand den Einwand seiner ehemaligen Kolonie und bot prompt Hilfe an. Seit Monaten drängt die Regierung in Rom ihre europäischen Partner, das Waffenembargo gegen Libyen zu lockern, damit sie al-Gaddafis Wünsche erfüllen kann. In einem Anfang Juli in Tripolis unterzeichneten Abkommen verspricht die italienische Regierung, den libyschen Autoritäten »jede mögliche Hilfe, wenn sie sie anfordern«, und versichert zudem, Libyen mit »dem notwendigen technischen Gerät« auszurüsten, so der Internetnachrichtendienst Middle East Online.

Italiens Partner reagierten bisher verhalten. Innerhalb der EU gebe es zwei Linien, meint ein Brüsseler Diplomat. Die pragmatischere Haltung werde von den Ländern vertreten, die in Libyen vor allem den Öl- und Gaslieferanten sehen. Andere Staaten hingegen seien blockiert, da Angehörige dieser Länder bei Attentaten ums Leben kamen, als deren Drahtzieher Libyen gilt. Zudem hielten manche al-Gaddafis Klagen über fehlende Mittel für vorgeschoben. Libyen sei schließlich ein Polizeistaat mit weit verzweigten militärischen Verbindungen auf dem afrikanischen Kontinent, und es sei wenig glaubwürdig, dass ausgerechnet ein solcher Staat nicht in der Lage sei, die Aktivitäten von Schleusern zu kontrollieren. Libyen benutze die Ausreisewilligen, um Druck auf Italien und die EU auszuüben.

Am Ende stand ein Kompromiss. Im letzten November beschlossen die europäischen AußenministerInnen, eine Vorausmission, zusammengesetzt aus Experten der europäischen Kommission, nach Tripolis zu senden, um zu erkunden, ob die libyschen Machthaber bereit sind, die EU in ihrem Kampf gegen »illegale« Einwanderung zu unterstützen. Da diese Mission nach offiziellem Bekunden positiv verlaufen ist, wird nun eine zweite für diesen Monat vorbereitet.

Die derzeitige italienische Doppelspitze hat eine neue Dynamik ins Spiel gebracht. Italien, das selbst nur einen Einwandereranteil von weniger als drei Prozent hat, hat die Kontrolle der Einwanderungsbewegungen ganz oben auf das Programm seiner sechsmonatigen EU-Präsidentschaft gesetzt. Die Beziehungen zu Libyen haben freilich noch einen anderen Hintergrund. Italien ist Libyens Haupthandelspartner und stark im Erdölgeschäft engagiert.

Der italienische Premier Silvio Berlusconi verkündete am 4. Juli im Rahmen einer gemeinsamen Pressekonferenz mit EU-Kommissionspräsident Romano Prodi in Rom nicht nur, dass Italien gerade ein Abkommen zur Bekämpfung der »illegalen« Einwanderung mit Libyen unterzeichnet habe, sondern auch, dass sich sein Land am Bau einer chemischen Fabrik in Libyen beteiligen werde. In einer Pressemeldung ließ die Kommission verlauten, Prodi und al-Gaddafi hätten sich telefonisch über illegale Einwanderung und die wirtschaftliche Lage in Afrika unterhalten.

Prodi hat Libyen offensichtlich zur Chefsache gemacht. In Rom erklärte er Journalisten, dass Gespräche zwischen der Kommission und den libyschen Autoritäten darüber stattfänden, wie Libyen wieder zu einem gleichberechtigten Mitglied der internationalen Gemeinschaft werden könne. Vor knapp einem Monat bat die Kommission den Rat der Staats- und Regierungschefs um die Erlaubnis, ein Fischereiabkommen mit Libyen auszuhandeln, bei dem die EU Investitionen in den libyschen Fischereisektor in Aussicht stellt. Am Rande des Gipfels der Afrikanischen Einheit vor dreieinhalb Wochen im mozambikanischen Maputo waren Prodi und al-Gaddafi ebenfalls verabredet, wird aus gut unterrichteter Quelle berichtet. Woher kommt dieser plötzliche Aktionismus in Bezug auf Libyen? Ganz einfach, meint eine italienische Diplomatin: Prodi und Berlusconi versuchten beide, sich im Hinblick auf die nächste italienische Regierung zu positionieren.

Plötzlich wird klar, dass vor drei Jahren Prodis Einladung an den libyschen Machthaber, nach Brüssel zu kommen, die er am Ende zurücknehmen musste, kein diplomatischer Fehltritt eines noch unerfahrenen neuen Amtsinhabers war, sondern wohlkalkuliertes Eigeninteresse. Wegen der Konkurrenz zwischen dem Kommissionspräsidenten und dem derzeitigen Vorsitzenden der Union geht man in Brüssel davon aus, dass der Ölstaat Libyen im kommenden Halbjahr ganz oben auf der europäischen Agenda rangieren wird.