Das Mekka des Ungezwungenen

Das SO 36 in der Oranienstraße wird 25 Jahre alt und vergisst seinen Geburtstag. Nichts ist eben so, wie es früher einmal war. von jens thomas

Martin Kippenberger ist ein Arschloch. Das jedenfalls muss sich der Gast gedacht haben, der ihm eines Abends im SO 36 beinahe den Schädel zertrümmerte. Kippenberger, ein Maler und Installationskünstler im Umfeld des Kreuzberger Vorzeigeclubs, nutzte wie so oft die Gelegenheit und machte aus Destruktivem Konstruktives: Er ließ sein bandagiertes Antlitz fotografieren und betitelte das Bild zynisch mit den Worten »Dialog mit der Jugend«.

Das war vor 25 Jahren. Kippenberger begab sich danach in die große weite Welt, lebte mal in Los Angeles, lehrte mal als Gastprofessor an der Frankfurter Städelschule, bis er sich schließlich in Wien zu Tode soff und 1997 starb. Doch wer sich auf einen Streifzug durch Kreuzbergs Sozialgeschichte begibt, stößt auf ihn und seine Künstlerschar, auf seine »Hetzler-Gruppe« und die Maler vom Moritzplatz namens Salomé, Helmut Middendorf und Co.

Das SO 36 hat Geburtstag, es wird 25 Jahre alt, doch die Pforten sind geschlossen. »Es ging nicht anders«, sagt Markus Heinz, der Pressesprecher von Sub Opus 36 e.V. »Es wird umgebaut, der Boden ist durch.«

Das SO 36 ist ein Mythos, der Club, der wohl wie kein zweiter in Berlin für provokantes, spontanes Leben in den achtziger Jahren steht. »Es gab ein einzigartiges Zusammentreffen von so genannten Sub- und Hochkulturen. Künstler und Hardcorepunks trafen sich an einer Lokalität«, berichtet Wolfgang Müller, der Sänger der damaligen Szene-Ikone Die Tödliche Doris. Das SO 36 war ein Laden, in dem jeder irgendwas tat, aber niemand so genau wusste, wem er eigentlich gehört oder wer ihn gerade führt.

Das Baujahr des Gebäudes liegt bereits weit über 100 Jahre zurück. 1861 war die Halle zunächst ein Biergartenlokal, vor rund 75 Jahren zog dann das Kino am Heinrichplatz, eines der ersten Berliner Lichtspielhäuser, mit 660 Plätzen ein. Und nachdem in den sechziger und Anfang der siebziger Jahre eine Gruppe von Aktionskünstlern den Raum als Atelier genutzt hatte, besetzten ihn die »Neuen Wilden«, die Maler vom Moritzplatz.

Joachim Schächtele, Armin Andersch, Klaus Brenecke und Andreas Rohe gelten als die Gründer. Am 12. August 1978 hoben sie das SO 36 mit einem zweitägigen Konzert aus der Taufe, genau einen Tag vor dem 17. Mauergeburtstag. Eine Buttercremetorte in Form der Berliner Mauer wurde an jenem Abend ins Publikum gereicht. Anschließend lärmten elf Bands von der Bühne, unter ihnen Größen wie Mittagspause, Male, S.Y.P.H oder Alexander Hacke, der auch mit Blixa Bargeld bei den Einstürzenden Neubauten spielte.

Das Publikum hätte in jener Zeit bunter nicht sein können. »Fast jeder konnte dort Teil des Ganzen werden«, erinnert sich Wolfgang Müller. 1981 trat er im SO 36 mit seiner Formation Die Tödliche Doris zum ersten Mal auf. Wohl kaum eine Band der alten Schule wird dort nicht gewesen sein. Von den Einstürzenden Neubauten über die Dead Kennedys bis zu DAF und Devo standen alle Helden der Achtziger dort auf der Bühne.

Was heute mit einer pompösen Lichtanlage ausgestattet ist, war früher ein ranziges, muffiges Loch, ein karger, wüster Raum, schlicht und ohne Schnörkel. Punks und Künstler fanden im SO 36 zusammen, obwohl sie sich, wie der Dichter und Autor Bert Papenfuß erzählt, zunächst gar nicht so gut verstanden. »Punk war gegen Kunst«, sagt Papenfuß. Erst allmählich entdeckte das linke Spektrum die Kunst als Medium, in dem man sich austoben konnte.

»Doch niemand wollte so sein wie der andere, keine Band wollte sich so anhören wie eine andere«, unterstreicht Müller. Auch ging es nicht in erster Linie darum »zu gefallen«, wie Cordula Lippke von der früheren Band Coca im gerade erschienenen Katalog »lieber zu viel als zu wenig« der Neuen Gesellschaft für Bildende Künste meint, sondern einfach nur darum, »dabei zu sein«.

Die Bühne im SO 36 war der Schauplatz für die spontane Selbstinszenierung. Gudrun Gut, zwischenzeitlich bei den Bands Mania D. und Malaria, heute Betreiberin des Labels Monika Enterprise, improvisierte. Maler versuchten sich als Musiker. Salomé, bekannt geworden durch eine Schaufensteraktion, bei der er sich in Stacheldraht einwickelte, und Luciano Castelli stellten sich unter dem Bandnamen »Geile Tiere« auf die Bühne und hackten auf ihren Instrumenten rum. Kreuzberg in den achtziger Jahren war das Mekka des Ungezwungenen. »Eine Insel für die Aussteiger«, erinnert sich Müller, für diejenigen, die sich dem Wehrdienst entziehen oder einfach billig in den Tag hinein leben wollten. »1980 kostete meine Kreuzberger Wohnung mit Außentoilette und Ofenheizung gerade mal 85 Mark.« Er habe nur zwei Tage im Monat kellnern müssen, um die Miete bezahlen zu können. »Unter diesen paradiesischen Zuständen, im trashigen, vom Bund subventionierten Westberlin, konnte ein Projekt wie Die Tödliche Doris wachsen, völlig kompromisslos, ohne jeden Gedanken an Wirtschaftlichkeit.«

Dieses Image haftete dem Stadtteil noch bis in die neunziger Jahre an. Kreuzberg, der Hügel des provokant tobenden Mobs. Leute von anderswo zuckten regelrecht zusammen, wenn sie von Kreuzberg und dem SO 36 hörten. Ein Auftritt von Berlins Hardcore-Combo Charlys War im Kölner Club Rhenania konnte Anfang 1990 noch mit ehrfurchterregendem »Wir sind Charlys War aus Kreuzberg« angekündigt werden. Ein respektvolles »Hoho« brandete seinerzeit auf, mit großen Augen stand die Schar vor der Bühne, erwartungsvoll und bereit, sich mit harten Tönen aus Deutschlands einziger Bronx bestrafen zu lassen.

Doch das Image des SO 36 hat sich gewandelt. »Heute möchten sich eben viele so anhören, wie das, was gerade besonders erfolgreich ist«, findet Müller. Muskelbepackte Türsteher sorgen schon länger am Eingang für Sicherheit. Die Eintrittspreise sind rapide gestiegen, man muss schon mal 20 Euro für ein Konzert berappen; schließlich müssen Gewinne eingefahren werden, um die hohen Mietkosten aufzubringen.

Einen Wendepunkt mag das Jahr 1987 darstellen. Damals räumte die Polizei den Laden, der nun unter der Trägerschaft des Sub Opus 36 e.V. steht. Seit 1994 gibt es feste, bezahlte Arbeitsplätze. Auch der Getränkeverkauf wird als wirtschaftlicher Eigenbetrieb organisiert und nicht mehr wie früher verpachtet. »Wir mussten bislang 9 000 Euro allein für die Miete bezahlen, jetzt sind es 11 300 Euro«, erklärt der Pressesprecher Heinz. Die Lage sei alles andere als rosig.

»Kreuzberg schlägt zurück«, betitelte Berlins Stadtmagazin Zitty kürzlich den neu aufflammenden Kreuzberg-Hype. Doch wirklich angesagt ist das SO 36 nicht mehr. Waschechte Punks und Rock’n’Roller zieht es eher ins Wild at Heart in der Wiener Straße. Aber auch hier wird bereits gemeckert, weil die Preise gestiegen sind.

Am 29. August wird das SO 36 seine Pforten wieder öffnen. Vielleicht unter dem Motto »einer von euch, unter euch, mit euch«, das Kippenberger bereits 1978 zu seinem eigenen 25. Geburtstag benutzte, als das SO 36 noch ganz frisch war. »1/4 Jhdt. Kippenberger« stand auf den Plakaten, als er versuchte, die Szene zusammenzubringen. Es klappte. Auch wenn er heute tot ist und der zornige Gast ihn für ein Arschloch hielt.