Dagegen bleiben

Kann man hierzulande gar nichts gegen den Sozialabbau tun, weil das Bewusstsein für einen dauerhaften Widerstand nicht vorhanden ist? Was tun? Teil IV

Französisch lernen

Schröders Agenda 2010 ist auf dem Durchmarsch, und die Steuerreform wird vorgezogen. Wer also im nächsten Jahr etwa 400 Euro einspart, kann sie mit vollen Händen ausgeben. In der Apotheke oder beim Zahnarzt. Wer 10 000 Euro oder mehr spart, kann sie investieren. Der Kanzler wird es allen danken und kann an die nächsten »Reformen« ran. Deutschland wird Stück für Stück weiter »modernisiert«.

Was aber sollen die machen, denen das alles nicht passt? Es gibt ein paar Sachen, die man tun kann, statt sich nur auf das Prinzip Hoffnung zu verlassen und zu hoffen und zu hoffen und zu hoffen. Bald wird wieder »nachjustiert« und der Bedarf an Hoffnung wird bald unerschöpflich sein. Trotz alledem gibt es noch Unentwegte, die aktiv sind, etwa in Gewerkschaften oder in Arbeitsloseninitiativen.

Einmischung von unten ist angesagt! Überall und immer wieder! Tun wir das, solange wir noch nicht an der Wand stehen! Warten wir nicht, bis der Betrieb Pleite macht oder geschlossen wird. Notwehraktionen wie ein Hungerstreik bringen zwar kurzzeitig Schlagzeilen, aber auf der Straße stehen die Beschäftigten dann meist trotzdem, manchmal »sozial abgefedert«. Jede und jeder kann persönlich was tun. Besser und weitaus wirksamer sind aber kollektive Aktivitäten, die auch öffentlich werden. Das geht auch mit ein paar Leuten.

Wenden wir uns gegen die Sprach- und Argumentationsmuster derer »da oben«, denn sie sind mit »ihren« Medien recht erfolgreich. Reden wir mit den KollegInnen am Arbeitsplatz, in der Pause, gerade wenn verdummende Sprüche in der Zeitung stehen! Sprechen wir den Betriebsrat an, den Personalrat, die Mitarbeitervertretung, auf dem Gang, in der Sprechstunde, bei der Betriebsversammlung! Betriebsräte sind nur so gut wie ihre Belegschaft.

Reden wir mit gewerkschaftlichen Vertrauensleuten im Betrieb! Treten wir in die Gewerkschaften ein, wir haben keine besseren, aber belassen wir es nicht dabei! Mischen wir uns ein auf gewerkschaftlichen Sitzungen und Konferenzen, sprechen wir die Vorstandsmitglieder an!

Schreiben wir Leserbriefe an das örtliche Käseblatt und an die Gewerkschaftszeitung!

Am besten überlegen wir, die Erwerbslosen, gleich selbst, welche cleveren Aktionen möglich sind! Lasst uns Französisch lernen! In unserem Nachbarland sollen auch schon Erwerbslose in einen Supermarkt eingefallen sein und »eingekauft« haben, ohne zu bezahlen. Organisieren wir den sozialen Widerstand vor Ort! »Wer kämpft, kann verlieren«, sagte mal Bertolt Brecht und fügte hinzu: »Wer nicht kämpft, hat schon verloren.«

marian janka, koordinierungsausschuss gewerkschaftlicher arbeitslosengruppen

Irgendwas tun?

Ist die Antwort auf die Frage »Was tun?« wirklich (irgend) »was tun!«? In dem Sinn: Hauptsache, es wird was (was?) getan! Der markige Aufruf: »Klassenkampf jetzt!« klingt nach mehr und kommt doch über eine Beschwörung nicht hinaus, wenn nicht zur Kenntnis genommen wird, dass die Klasse, die kämpfen könnte, alles andere im Kopf hat als Klassenkampf. Geradezu traumhaft wäre es, wenn man sich in einer Situation befände, in der man wirklich die Frage stellen könnte: »Wie sollte der Widerstand gegen den Sozialabbau fortgeführt werden?« Haben ihn denn schon die Leute, die die Mittel dazu haben, ernsthaft geführt und bräuchten sich nun nur noch zu beratschlagen, wie sie ihn bis zum Erfolg fortsetzen können?

Ganz im Gegensatz dazu ist die schlichte Feststellung richtig: »Die Maßnahmen der Agenda 2010 kommen.« Nur – was ist der Schluss daraus?

Erstmal müsste man klären, worum es sich beim »Sozialabbau« der Agenda 2010 handelt. Ist sie »noch so ein Schritt« in der langen Reihe von Maßnahmen seit den späten siebziger Jahren? Oder mehr? Ist sie ein »Systembruch«, ein sozialpolitischer Paradigmenwechsel, der Schluss macht mit dem Märchen aus der Sozialkunde und den Sozialwissenschaften, dass der »Manchester-Kapitalismus« in der Bundesrepublik zur »sozialen Marktwirtschaft« gebändigt worden sei, dass dadurch Proletarier zu arbeitnehmenden Staatsbürgern geworden seien, die nicht mehr in proletarischer Armut, sondern im »Wohlstand« lebten?

Zweitens müsste man klären, warum die Klasse, die das alles betrifft, es nicht nur hinnimmt, sondern – schlimmer noch – der Partei ihre Gunst schenkt, die am glaubwürdigsten verspricht, all diese »seit langem fälligen Strukturreformen« durchzusetzen. Warum brauchen die herrschenden und die opponierenden Demokraten gar nicht mehr für den Kapitalismus, sondern nur noch mit seinen Notwendigkeiten zu argumentieren, um auf Zustimmung für ihr Programm der Reform des Sozialstaats zu stoßen, bei dem nicht mehr viel von den sowieso schon elenden »Hilfen« übrig bleibt, die er bisher denen gewährte, die als nicht mehr brauchbar aus den Reihen der Ausbeutbaren ausgesondert wurden?

Der einzige Grund dafür besteht darin, dass die Lohnabhängigen sich einerseits erpressen lassen mit der Abhängigkeit von den Arbeitsplätzen, also vom Gewinn der Unternehmen. Andererseits wissen sie, dass sie von den Löhnen nicht dauerhaft leben können. Sie brauchen sozialstaatliche Absicherungen für den Fall der Arbeitslosigkeit, der Krankheit, des Alters. Also lassen sie sich zusätzlich mit ihrer Abhängigkeit vom Sozialsystem erpressen.

Der Kanzler sagt in der Agenda 2010, es gehe »nicht darum, dem Sozialstaat den Todesstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, die Substanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brauchen wir durchgreifende Veränderungen.« Er argumentiert nicht für irgendwelche Vorteile des Kapitalismus, sondern mit dessen Härten. Erst wenn die Lohnabhängigen die darin enthaltene Botschaft, die von Schröder bekräftigte Unversöhnlichkeit des Fortschritts des kapitalistischen Wachstums mit ausreichenden Löhnen und sozialer Sicherheit, als Einwand gegen den Kapitalismus ernst nehmen, wäre er da – der »Klassenkampf jetzt!« Und die Frage »Was tun?« wäre keine mehr.

theo wentzke, gegenstandpunkt

Die Glotze ausschalten

Auf die Frage: Was tun? scheint es hierzulande nur eine Antwort zu geben: nichts. Die Medienmacht ist zu groß, das Diskursuniversum für jede wirklich abweichende Meinung abgeriegelt, und die Menschen wollen es offenbar so, wie es jetzt kommt. Wer sich jemals mit prekär Arbeitenden unterhalten hat und anhören musste, wie auch sie »mehr Eigenverantwortung« fordern, weiß Bescheid. Auch viele der Journalisten, die nun den Sozialabbau herbeischreiben, sind selbst von dem betroffen, was nun beschlossen wurde.

Wer sich über diese Entwicklung ernsthaft wundert, hat offensichtlich in den vergangenen zwanzig Jahren in einem anderen Land gelebt. Denn der Umbau der Gesellschaft begann schon unter Helmut Kohl und traf auch damals nicht auf allzu großen Widerstand. Was soll denn heute plötzlich geschehen, da doch die Kinder der Kohl-Ära inzwischen in den Redaktionen und den Parlamenten sitzen? Was soll man von einer Gesellschaft erwarten, die Fernsehmonstern wie Stefan Raab zu Füßen liegt und die einen pausbäckigen, pubertären Jüngling als Superstar feiert? Von einer Gesellschaft, die am 17. Juni eines Arbeiteraufstands gedenkt und im selben Atemzug die Gewerkschaften zum Teufel wünscht? Von einer Gesellschaft, die jedem Krieg vom Kosovo bis in den Kongo zujubelt, wenn nur die Bundeswehr sich an ihm beteiligt?

Die Agenda 2010 ist nicht isoliert zu betrachten. Auf einem Bahnhof, wo selbst der Fahrkartenautomat mit Videokameras überwacht wird, löst der Revolutionär nicht mal mehr eine Bahnsteigkarte, geschweige denn, dass er ein Bahngleis blockiert. Wer traut sich denn an eine Wand zu sprühen: »18 Uhr Aufstand am Kotti«, wenn er nachher anhand der DNA-Probe überführt wird? Wir haben den Zustand erreicht, den Herbert Marcuse einmal die »totale Verwaltung« nannte. Alles ist davon durchdrungen: das Denken, der Alltag, die Sprache. Doch von der »großen Weigerung«, die Marcuse beschwor, ist nichts zu spüren.

In Deutschland ist seit der Machtergreifung des Nationalsozialismus jede linke politische Tradition abgerissen. Die Nazis haben ganze Arbeit geleistet: Kommunisten, Sozialdemokraten, die linke Intelligenz wurden umgebracht, übrig blieben nur die Nazis, die Anpasser und Opportunisten, von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen. Jeglicher Widerstand gilt als volksfeindlich.

Und wie sollen die Menschen auf andere Gedanken kommen, wenn immer und überall dasselbe zu lesen ist? Josef Joffe schrieb es vorige Woche in der tausendsten Variation in der Zeit: »Was so lange gut funktioniert hat, funktioniert nicht mehr: informelle Konkurrenzabwehr, ständestaatliche Regulierung (Meisterbrief!), Kartellisierung der Arbeitsmärkte, Abwälzung privater Belange auf das Ganze und folglich immer höhere Abgaben (…) Werden wir von diesem Staat tatsächlich schlecht versorgt? Oder sollte er uns in Wahrheit nicht mehr Leistung abverlangen, damit er selbst Leistung erbringen kann?«

Am Ende nahm er für sein Lob des Sozialabbaus sogar einen Kommunisten in den Dienst: »Wie sagte doch Karl Marx: Die Philosophen haben die Welt interpretiert, wir müssen sie verändern. Wer aber den Wandel gar abwehrt, muss sich abschotten, und wer sich abschottet, verliert (…) Die Deutschen sind überall Weltklasse, wo sie sich dem Wettbewerb stellen: in Sport, Musik, darstellender Kunst, Autobau.«

Eine Gesellschaft, die wie eine Autofabrik funktioniert, das ist der Traum derer, die Leistungskürzungen bei Arbeitslosen und Steuergeschenke an Besserverdienende als gesellschaftlichen Fortschritt verkaufen.

Der Aufbau einer Gegenbewegung benötigt mindestens zehn bis zwanzig Jahre, man sollte sich keinen Illusionen hingeben. Eine widerständige Opposition bräuchte eine aufklärerische, auf lange Zeit angelegte Kampagne.

Freilich wird es auch in Zukunft die eine oder andere Aktion gegen dies oder das geben. Aber es existiert kein realistischer Plan, keine Idee, nichts. Vorerst muss die Klage über den beschissenen Zustand reichen. Öfter mal die Glotze ausschalten. Ein Buch lesen. Über das reden, was weh tut. Das wäre schon mal ein Anfang.

prekäre prols berlin