Terror ja, aber nicht hier!

Nach den Anschlägen in Casablanca unterscheiden viele Marokkaner zwischen guten und schlechten Attentaten. von alfred hackensberger, tanger

Auf dem Boden liegen aneinandergereiht die Leichen jener Attentäter, die nicht zerrissen wurden. Auf ihrer Stirn kleben Zettel mit den Nummern zwei, drei und vier. Daneben ein Mann auf einem Feldbett, dessen Kopf bis auf die Nase und kleine Augenschlitze verbunden ist. Die Bildunterschrift dazu lautet: »Hier unsere geheime Gesellschaft, diese Humanoiden, deren Instinkt der Selbstdestruktion und Destruktion stärker ist als der Instinkt zum Leben und der Respekt des Lebens anderer.«

Nicht minder drastisch als in der Wochenzeitung Maroc Hebdo war die Reaktion der anderen marokkanischen Medien auf die Attentate von Casablanca. Die Berichterstattung gibt nicht nur die offizielle Meinung des Königreichs Marokko wieder, sondern auch die Gefühle der Menschen, die in Geschäften, Büros und Cafés diskutieren. »Wie können diese Menschen das nur tun«, sagt der Student Youssef, »Unschuldige töten, Zivilisten, das steht doch im Koran, das darf kein richtiger Moslem.« Er steht mit seiner Meinung nicht allein. Tausende Marokkaner solidarisierten sich mit den Opfern der Anschläge und gingen in Rabat, Tanger und Casablanca auf die Straße, um gegen den Terror zu demonstrieren.

Wer ein richtiger Moslem und was der richtige Islam ist, darüber scheiden sich seit Jahren die Geister. In Marokko sind es 20 mehr oder minder radikale Organisationen, die sich um eine neue Weltgestaltung, eine angeblich am Koran ausgerichtete neue Weltordnung bemühen. Die 14 Attentäter von Casablanca waren Mitglieder des Assirat al-Moustakim (Der rechte Weg), dessen Führer Zakaria Miloudi seit über einem Jahr im Gefängnis sitzt.

Alle kommen aus dem Blechhüttenlabyrinth Sidi Moumen im Nordosten von Casablanca, in dem es weder Straßen und Hausnummern noch fließend Wasser und Strom gibt. In diesem Elendsviertel, von dem man nicht einmal weiß, wie viele Menschen dort leben, wurde im Februar des letzten Jahres ein »Gottloser« gesteinigt. »Der islamische Terror«, sagt ein Polizist, der anonym bleiben will, »wächst in diesen Barackenstädten. Er ist ein Ergebnis des Elends, der Arbeitslosigkeit, öffentlicher Ignoranz und fehlender Hilfe von sozialen Organisationen.«

Um das soziale Problem Marokkos versuchen sich immer wieder radikal-islamistische Organisationen zu kümmern, im Großen wie im Kleinen. Man unterstützt den Orangensaftverkäufer an der Ecke oder macht es so wie die Gruppe al-Adl Wal Ihassane (Gerechtigkeit und Wohltätigkeit), die vor vier Jahren die Badestrände besetzte, Zelte aufbaute, Volksküchen einrichtete, kostenlose ärztliche Behandlung und Koranseminare anbot. Als in kurzer Zeit Zeltstädte entstanden und tausende Besucher kamen, wurde das Ganze von der Regierung verboten.

Die Slums von Casablanca sind sicherlich Rekrutierungsgebiete für islamistische Krieger, aber soziale Faktoren allein erklären zu wenig. Einige der Attentäter arbeiteten vorher im spanischen Almeria, taten also das, wovon viele Marokkaner träumen. »Für mich«, sagt der Student Nourredine Diaaz in Casablanca, »gibt es zwei Gründe für diese Radikalisierung. Einmal die Erfahrung, ein Mensch zweiter Klasse zu sein, nicht teilhaben zu können am Wohlstand, den man Tag für Tag im Fernsehen sieht. Und natürlich die weltpolitischen Ereignisse in New York, im Irak und vor allem in Palästina.«

Obwohl die Anschläge von New York fast zwei Jahre zurückliegen, hat Abdillah, der in einem kleinen Geschäft als Hilfskraft arbeitet, auf seinem Handy-Display noch immer die rauchenden Twin Towers und kurz danach ein Porträt bin Ladens. Besonders bei jungen Marokkanern ist der Führer von al-Qaida beliebt. Sie wähnen in ihm einen arabischen Robin Hood, der das tut, was die eigene Regierung versäumt: die Palästinenser im Kampf gegen die zionistischen Schlächter zu unterstützen und Amerika endlich zu zeigen, was eine arabische Harke ist.

Die Enttäuschung sitzt tief, weil Saddam Hussein die USA nicht besiegte. Die ganze Welt, insbesondere die muslimische, ist dem amerikanischen Imperialismus hilflos ausgeliefert. So sehen es viele. »Diese Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit, diese Ungerechtigkeit in der Welt«, sagt ein marokkanischer Lehrer, der ebenfalls anonym bleiben will, »erzeugt eine Ohnmacht, die mich manchmal sprachlos, manchmal maßlos wütend macht.«

»Selbstverständlich gibt es einen Unterschied«, sagen die Schüler eines Deutschkurses im Goethe-Institut in Tanger, als im Unterricht über die Selbstmordattentate von Casablanca und jene in Palästina diskutiert wird. »Die Leute der Hamas kämpfen für die Freiheit ihres Volkes, das ist doch ganz was anderes.« Wie lange wird es dauern, bis sie keinen Unterschied mehr sehen, da sie schon jetzt auf der Seite jener sind, denen der Respekt für das Leben abhanden gekommen ist?

Abdillah sagt, der Schock, weil so viele seiner Landsleute getötet wurden, dass die Bomben plötzlich vor der eigenen Haustür in die Luft gingen, sei groß. Aber was wäre gewesen, wenn nicht Zivilisten, sondern US-Soldaten angegriffen worden wären? Es hätte mehr als nur »klammheimliche Freude« gegeben.

Die Regierung Marokkos ist sich über die Verhältnisse im Land im Klaren. Bei den ersten freien Wahlen nach dem Tod Hassans II. im Jahr 1999 bekam die islamistische Partei PJD (Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung) 37 Sitze im Parlament. Man ist sich bewusst, dass der Islam besonders bei jungen Menschen Identität stiftet. Dementsprechend wetterte der Justizminister Mohammed Bouzoba im Parlament gegen die PJD und machte sie für die Ereignisse in Casablanca mitverantwortlich. Die radikalen islamistischen Bewegungen stören die Regierung schon lange. Nun gibt es einen Anlass, sie nicht nur zu beobachten und einzelne Mitglieder unter Hausarrest zu stellen.

Unmittelbar nach den Anschlägen versuchte man, aller Verdächtigen und aller Kontaktpersonen habhaft zu werden. Über 100 Verhaftungen soll es im ganzen Land gegeben haben, genaue Zahlen liegen nicht vor. Bei den Untersuchungen, die von Spezialisten aus Frankreich und Spanien unterstützt werden, sollen sich Verbindungen zum »internationalen Terrorismus« ergeben haben. Besonders »die Verhaftung von zwei noch lebenden Terroristen«, sagte der Außenminister Mohammed Benaissa, »hat zu diesen Informationen geführt«.

Außerdem wollen die Behörden studentische Gruppen, so genannte wilde Moscheen und Koranschulen überwachen. In Marrakesch wurde bereits eine Madrassa platt gewalzt. Bei ihrem Vorgehen kommt den Behörden das neue Antiterrorgesetz recht, das drei Tage nach den Anschlägen einstimmig im Parlament verabschiedet wurde. Das Gesetz erlaubt die Telefonüberwachung, nächtliche Hausdurchsuchungen, eine Verlängerung der Haftfrist ohne Anklageerhebung von 48 auf 96 Stunden und den Widerruf des Bankgeheimnisses. Auf Mord steht die Todesstrafe, die in Marokko seit zehn Jahren nicht mehr angewendet wurde, und zwei bis sechs Jahre Gefängnis warten auf denjenigen, der öffentlich zur Gewalt aufruft.

Die Regierung kann nur hoffen, dass es keine neuen Anschläge gibt. Eine Bombe im Touristenzentrum Agadir käme einer Katastrophe gleich. Bisher wurden zwar kaum Buchungen storniert, aber das bedeutet nicht, dass der zehnmillionste Tourist in diesem Jahr auch kommen wird. »Erst in den nächsten Monaten«, so heißt es von offizieller Seite, »kann man eine Diagnose über die Situation im Tourismussektor abgeben.«

Bis auf einige falsche Bombenalarme und erhöhte Sicherheitsmaßnahmen, Kontrollen auf den Autobahnen, absolutes Parkverbot vor ausländischen Einrichtungen und Zusatzkontrollen an den Flughäfen geht mittlerweile alles wieder seinen normalen Gang. Die Frage ist nur: Wie lange?