Schluss mit Schlussstrich

Im September vor 30 Jahren putschte General Pinochet in Chile. Die Diskussion über die Verbrechen der Diktatur hat begonnen. von nils brock

Manche können ihren Stolz kaum verhehlen. »Wenn sie mich nach meiner Vergangenheit in der Marine fragen, und ob ich mit dem General Pinochet zusammengearbeitet habe, dann beschämt mich das nicht, noch ist es mir unangenehm.« So äußerte sich der Senator Jorge Arancibia, der zur sozialistischen Regierungspartei Udi gehört, im April gegenüber der Tageszeitung El Mercurio. Noch weitere neun seiner heutigen Kollegen im Senat können auf eine lange militärische Karriere zurückblicken.

30 Jahre ist es her, dass ihr damaliger Vorgesetzter Augusto Pinochet den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende stürzte und eine Militärdiktatur installierte, die in Chile bis 1990 herrschen sollte. Nach offiziellen Angaben wurden während des Putsches und der folgenden Jahre der Repression 3 196 Menschen ermordet oder »verschwanden« spurlos. Dennoch sieht sich das gesamte Militär bis heute nicht genötigt, sich seinem Handeln in der Vergangenheit zu stellen.

»Das Militär hat keine Intention aufzuarbeiten, was passiert ist«, bestätigt Julia Urquieta, eine Anwältin, die sich für die Menschenrechte einsetzt. Auch der Staat hat sich bisher nur einmal bei den Familien der Opfer entschuldigt. Im Jahr 1991 bat der damalige Präsident Patricio Aylwin unter Tränen um Vergebung. Das war eine wichtige symbolische Geste. Es war aber zugleich auch ein »Akt der Ablenkung«, wie es der Soziologe Tomás Moulián formuliert. Denn eine individuelle Strafverfolgung war nie vorgesehen.

Umso überraschender erschien deshalb eine Meldung, die die chilenische Tagespresse im April beschäftigte. Es ging um die Verurteilung von Manuel Contreras, dem ehemaligen Leiter des berüchtigten Geheimdienstes Dina. Das Gericht machte ihn dafür verantwortlich, dass der politische Gefangene Miguel Angel Sandoval Rodríguez im Jahre 1973 nach einem Verhör verschwand, und verurteilte Contreras zu 15 Jahren und einem Tag Gefängnis.

Damit wurde zum ersten Mal ein Putschist wegen des »Verschwindens« eines politischen Gefangenen bestraft. Späte Gerechtigkeit für die Opfer und deren Hinterbliebene? Die spanische Nachrichtenagentur EFE ging sogar so weit, das Urteil als einen Präzedenzfall der chilenischen Rechtsprechung zu loben.

Allerdings ist längst nicht klar, wie sich diese gerichtliche Entscheidung auf künftige Prozesse auswirken wird. Derzeit gibt es über 300 offene Verfahren gegen ehemalige Militärs. Auch Julia Urquieta bezweifelt, dass das Urteil gegen Contreras wirklich einen Präzedenzfall darstellt: »Ausschlaggebend war die Meinung dieses einen Richters.« Sie glaubt nicht, dass ein Richter, der die Diktatur unterstützte, Contreras schuldig gesprochen hätte.

Dass es bisher erst zu einer Verurteilung wegen der Beteiligung an Verbrechen der Diktatur gekommen ist, liegt jedoch auch daran, dass die Täter selbst die noch immer gültigen juristischen Regeln festsetzten. So beruft sich der Oberste Gerichtshof bis heute auf ein 1978 erlassenes Amnestiegesetz, welches allen Akteuren der Militätdiktatur vollständige Straflosigkeit für Verbrechen garantiert, die in den ersten fünf Jahren der Ära Pinochet begangen wurden. Da mehr als 80 Prozent der offiziell erfassten Verbrechen innerhalb dieses Zeitraums liegen, schien eine strafrechtliche Verfolgung bisher ausgeschlossen.

Der Schuldspruch im Fall Contreras für ein 1973 begangenes Verbrechen wurde erst nach einer bisher einmaligen Neuinterpretation des besagten Gesetzes möglich. Die Anwälte, die die Familie des Opfers vor Gericht vertraten, konnten nachweisen, dass Sandoval Rodríguez im Jahr 1973 in der »Villa Grimaldi«, der berüchtigten Folterzentrale des Geheimdienstes, verhört wurde. Sein anschließendes Verschwinden schließt eine Tötung nach 1978 aber nicht aus. Dann jedoch wären die Verantwortlichen nicht länger von dem Amnestiegesetz geschützt. Es läge somit bei den Militärs zu beweisen, dass die Ermordung vorher erfolgte.

Eine Ironie des Schicksals will es, dass sich Contreras noch im September des Jahres 2000 rühmte, es gebe über die Aktivitäten der Dina keinerlei Akten. Damit dürfte zumindest für ehemalige Mitarbeiter des Geheimdienstes die bisher gültige Straflosigkeit in Frage gestellt sein.

So bewertet auch Stacie Jonas, die Sprecherin der NGO »Bring Pinochet to Justice« aus Washington, das Urteil und verweist darauf, dass mit Contreras auch vier seiner Komplizen schuldig gesprochen wurden. Sie ist optimistischer als weite Teile der chilenischen Linken, welche die Strafe als rein symbolische Geste und stillen Kompromiss kritisieren. »Natürlich hat die Entscheidung einen enormen symbolischen Wert«, sagt Jonas, meint aber auch, dass zumindest »ein gefährlicher Mann hinter Gittern ist«. Sie hofft »auf weitere fortschrittliche Urteile«.

Ihre Organisation wird sich bald einen neuen, passenderen Namen geben, »da es nicht so aussieht, als ob Pinochet je verurteilt würde«, sagt Jonas. Sie will sich dafür einsetzen, dass der internationale Druck auf die chilenischen Institutionen aufrechterhalten wird und es nicht zu einem »Pakt des Schweigens« kommt.

»Der Pakt des Schweigens« spielt an auf ein Vorhaben der chilenischen Verteidigungsministerin Michelle Bachelet. Die Anwältin Julia Urquieta bestätigt, dass Bachelet pünktlich zum 30. Jahrestag des Putsches am 11. September einen runden Tisch mit Vertretern der Regierung, des Militärs und der Kirche bilden will, um einen »punto final«, einen endgültigen Schlussstrich unter die Verbrechen der Militärdiktatur zu ziehen. Dies könnte auch ein Ende aller noch anhängigen Prozesse bedeuten und eine Straflosigkeit für Taten wie Folter und Massenmord garantieren, die nach internationalem Recht nicht gewährt werden kann.

Zumindest das Urteil gegen Contreras gilt als endgültig, nachdem der Oberste Gerichtshof ein Berufungsverfahren jüngst abwies. Der Haftvollzug wurde allerdings wegen seines gesundheitlichen Zustands abgemildert, Contreras steht nun in einer Militärgarnision unter Hausarrest.

Wichtiger aber, als sich über die Haftbedingungen eines krebskranken 70jährigen zu streiten, dürfte es sein, dass die Prozesse gegen die Militärs fortgesetzt werden. Dies könnte die »pseudorepräsentative Demokratie Chiles« zwingen, wie es der Anwalt Alberto Espinoza Pino ausdrückt, sich ihrer Verantwortung gegenüber der Bevölkerung bewusst zu werden.

»Die Politik darf ihre eigene Schwäche nicht länger mit der Stärke des Militärs entschuldigen«, fasst Pino zusammen. Diese Kritik richtet sich vor allem gegen den chilenischen Präsidenten Ricardo Lagos, der aus Angst um politische Mehrheiten schon lange vor dem 30. Jahrestag des Putsches einen Pakt des Schweigens eingegangen ist.