Rebellion am Samstag

Tausende Gewerkschafter demonstrierten am vergangenen Wochenende in Berlin gegen Schröders Agenda 2010. Doch manche gehen bereits auf die Regierung zu. von stefan wirner

Eine Forderung der Gewerkschaften aus der Zeit, als man um die Einführung der Fünftagewoche kämpfte, lautete: Am Samstag gehört Papa mir. Dennoch rief die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi am vergangenen Samstag zu einer Demonstration nach Berlin unter der Parole: »Mutige Reformen statt Leistungsabbau«. Sie sagte bereits viel aus über die Kampfeslust der Gewerkschaften. Hätte es doch eigentlich lauten müssen: Leistungsabbau heißt heute mutige Reform.

Die Kompromissbereitschaft der deutschen Gewerkschaften ist sprichwörtlich. Über einen Widerstand am Wochenende oder in den Arbeitspausen der Betriebe gelangt man selten hinaus. Erste Zeichen eines Nachgebens in der Auseinandersetzung mit Gerhard Schröder und seinen Plänen zum umfassenden Abbau des Sozialstaats gaben die IG Bergbau-Chemie-Energie (IG BCE), die Bahngewerkschaft Transnet und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) ausgerechnet vor der geplanten Demonstration in Berlin. In einer gemeinsamen Erklärung mit dem Titel »Zukunft des Sozialstaates: Ja zu Reformen!« heißt es, die drei Einzelgewerkschaften wollten die »Reformnotwendigkeit in der Wirtschafts-, Finanz-, Steuer-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik« anerkennen. Es sei erforderlich, »durch Änderungsvorschläge und Kompromisslinien auf die Bundesregierung, die Länderregierungen und die beteiligten Parteien zuzugehen«.

Auch auf der Pressekonferenz vor der Demonstration machten Isolde Kunkel-Weber, die dem Bundesvorstand von Verdi angehört, und Ursula Engelen-Kefer, die stellvertretende Vorsitzende des DGB, ihre Kompromissbereitschaft deutlich. Engelen-Kefer betonte zwar, im DGB sei man sich einig darüber, dass »deutliche Korrekturen« an der Agenda 2010 notwendig seien, gleichzeitig aber verkündete sie, die Gewerkschaften würden etwa die geplante Zusammenlegung der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe »mittragen«. Auch die »Praxis der Frühverrentung« müsse verändert werden. Außerdem stünden die Gewerkschaften hinter der Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), die den Lobbygruppen im Gesundheitswesen den Kampf angesagt habe.

Draußen, auf dem Potsdamer Platz vor dem Verdi-Haus, sahen das die aus ganz Deutschland angereisten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter etwas anders. Hier war die Empörung über die Bundesregierung groß. Beschäftigte im Gesundheitswesen, in Pflegekittel gekleidet und mit Trillerpfeifen ausgerüstet, trugen Schilder mit den Aufschriften: »Tschüss Ulla« oder »Gesundheit nur für Reiche? Nein, danke«.

Auf der Auftaktkundgebung sprach Helmut Angelbeck vom Erwerbslosenausschuss Verdi den Leuten aus der Seele. »Die Abwahl von Helmut Kohl und die Regierungsübernahme von Rot-Grün hat sich nicht bezahlt gemacht, im Gegenteil«, rief er in die Menge. »Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe stellt alles in der Schatten, was Kohl je gemacht hat«, meinte er. »Wenn ich Wolfgang Clement sehe, bekomme ich Sehnsucht nach Norbert Blüm.« Niemals seit Kriegsende sei es den Arbeitslosen so schlecht gegangen wie unter der rotgrünen Regierung. »Arbeitslos sein bedeutet: wenig Geld, mehr Druck, keine Aussichten, Kasernenhofton auf den Arbeitsämtern.«

Verdi warf er »ritualhafte Proteste« vor, es gebe keinen echten Widerstand gegen die Regierung, was an der Parteizugehörigkeit mancher Gewerkschaftsführer liege. Die Mitarbeit der Gewerkschaften in der Hartz- und der Rürup-Kommission habe nur dazu geführt, dass »immer mehr Forderungen nach Sozialkürzungen auf den Tisch kamen«. Der Applaus war groß, Engelen-Kefer, die neben ihm auf dem Podium stand, sah betreten drein.

Der Jungle World sagte Angelbeck: »Wir Arbeitslose können zwar nicht streiken, aber wir haben Zeit, wir können stören. Ich bin nicht hier als Alibi für die Gewerkschaften. Wir werden kämpfen. Auf proletarische Weise.«

Die Befürchtung, dass die Führung der Gewerkschaften nachgeben könnte in der Auseinandersetzung um die Agenda war unter den Demonstranten durchaus verbreitet. Der 42jährige Frank Hannes war mit dem Bus aus Bergisch-Gladbach angereist, er arbeitet bei der Barmer Ersatzkasse. »Zu befürchten ist das Einlenken schon«, sagte er. »Die Kollegen sind alle sehr depressiv. Jeder hat Angst um seine Zukunft.«

Hans-Joachim Linnecke und Richard Leutpold von der IG BAU Berlin zeigten sich überzeugt, dass die SPD »die Quittung bei den nächsten Wahlen« bekommen werde. Es werde mehr Nichtwähler geben. »Ich hab’ mein Leben lang durchgeackert, ein Eigenheim gekauft, und nun so etwas«, schimpfte Leutpold.

Safiye Yildiz von der Föderation der demokratischen Arbeitervereine sagte, der Druck komme von der Basis, deswegen müsse die Gewerkschaftsführung handeln. »Aber am Ende haben sie immer Kompromisse gemacht.« Auf die Frage, warum das gerade in Deutschland so sei, meinte sie, es liege an der allgemeinen Resignation, es fehle der »Mut zum Streik«.

Um diese Zweifel zu zerstreuen, hielt Frank Bsirske, der Vorsitzende von Verdi, auf dem Alexanderplatz während der Abschlusskundgebung dann eine betont kämpferische Rede. Schröders Politik erinnere »fatal an die Ära Kohl«. Die in der vergangenen Woche bekannt gewordenen Verluste bei den Steuereinnahmen, die sich bis in das Jahr 2006 auf 126 Milliarden Euro belaufen sollen und sofort als weiterer Grund für Einschnitte ins soziale Netz genannt wurden, seien die »Folge einer verfehlten Steuerpolitik«.

Bsirske sprach sich für die Ausweitung der öffentlichen Investitionen aus, die Finanzkraft der Gemeinden solle gestärkt werden, ein Investitionsprogramm in der Höhe von 20 Milliarden Euro solle aufgelegt werden, um Arbeitsplätze zu schaffen. Er sprach sich für eine Ausbildungsplatzabgabe aus, für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, für eine Finanzierung versicherungsfremder Leistungen durch Steuern und für den Verzicht auf die Senkung des Spitzensteuersatzes. Schließlich rief er den Demonstranten zu: »Das wird nicht der letzte Tag sein, es ist der Beginn einer Auseinandersetzung.«

Auf jeden Fall wird es nicht der letzte Samstag gewesen sein. Für das kommende Wochenende ist ein gewerkschaftlicher Aktionstag angekündigt mit Kundgebungen und Demonstrationen in vielen Städten des Landes. Doch an der Ausdauer der Gerwerkschaften darf dennoch gezweifelt werden. Der zukünftige Vorsitzende der IG Metall, Jürgen Peters, kündigte bereits an, nach einer Verwirklichung der Agenda 2010 mit höheren Forderungen in die Tarifrunden zu gehen. Doch die Entscheidung über die zukünftigen Lebensbedingungen vieler kranker Menschen, vieler Sozialhilfeempfänger und Arbeitsloser fällt mit der Agenda 2010 und nicht in den Tarifverhandlungen.

In der SPD sieht man der Auseinandersetzung offensichtlich gelassen entgegen. »Auch bei den Gewerkschaften hat ein Umdenkungsprozess stattgefunden«, sagte der Sprecher des Bundesvorstandes der Partei, Bernd Neuendorf, der Jungle World. Aber vielleicht rafft sich die Basis der Gewerkschaften ja doch noch auf. Und kämpft proletarisch.