Roll over Baghdad

Schock und Ehrfurcht wollen die alliierten Streitkräfte unter ihren Gegnern auslösen. Doch je länger der Krieg dauert, desto schwerer lässt sich diese Taktik durchhalten. von martin schwarz, wien

Etwas bescheidener sind die Militärführer der »Koalition der Willigen« mittlerweile geworden. Tönte ein britischer Armeesprecher noch am Freitag, man könne »Bagdad in den nächsten 24 bis 48 Stunden erreichen«, so braucht die Eroberung jetzt offenbar ganz andere Zeiträume. »Wenn Sie die Geschwindigkeit unseres Vormarsches mit jener des Vormarsches alliierter Truppen im Zweiten Weltkrieg vergleichen, so werden Sie signifikante Unterschiede feststellen«, meinte der US-amerikanische Luftwaffengeneral Daniel Leaf am Sonntag.

Freilich: Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Spitzen der westlichen Streitmacht Bagdad erreichen, doch der große Rest der Invasionstruppe hat mit unerwartetem Widerstand im Süden des Landes zu rechnen. »Das sollte eigentlich nicht passieren«, beschreibt Captain Chris Carter den Beschuss Kuwaits durch irakische Raketen. Ursprünglich hatten die Alliierten angenommen, die Raketenstellungen der irakischen Armee in der südlichen Flugverbotszone durch das Dauerbombardement der letzten Wochen weitgehend ausgeschaltet zu haben. Gleichzeitig werden die US-amerikanischen und britischen Einheiten noch immer in Gefechte um Basra verwickelt, obwohl TV-Sender bereits vor Tagen die Einnahme der Stadt bejubelt hatten.

Russlands Geheimdienste haben angeblich Funksprüche der US-Armee abgehört, in denen die US-Kommandanten mit Verwunderung festgestellt haben, dass es nicht die Republikanischen Garden sind, die den ganzen Zeitplan durcheinander bringen, sondern ganz gewöhnliche Einheiten der irakischen Armee. Dabei ist Basra nicht von großer strategischer Bedeutung. »Die westlichen Medien sind fixiert auf diese ›Schlacht um Basra‹. Aber die Zukunft Iraks wird nicht im Süden entschieden, sondern weiter nordwestlich, wo die Streitkräfte der Koalition den Euphrat überschritten haben und auf Bagdad zurollen«, schreibt der US-Think Tank Stratfor in einer militärischen Analyse.

Doch auch nordwestlich von Basra ist Widerstand aufgekeimt. Im Kampf um die für die Schlacht um Bagdad strategisch wesentlich bedeutendere Stadt Nassarijah soll es nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums Verluste gegeben haben und der Vormarsch zumindest zeitweilig aufgehalten worden sein. Zumindest fünf US-Soldaten sind mittlerweile in irakischer Gefangenschaft – bezeichnender Weise Angehörige einer Wartungseinheit, die den voranstürmenden Elitetruppen folgte. Die Strategie von US-Kommandeut Tommy Franks, das Gebiet zwischen Kuwait und Bagdad bloß als Highway für die Truppen zu benutzen und die Region nicht vollständig unter Kontrolle zu bringen, wird zunehmend kritisiert: Russische Geheimdienste wollen gar von Zerwürfnissen zwischen Franks und dem Generalstabschef Richard Myers wissen. Angeblich sollen Franks bei weiteren Pannen in den nächsten Tagen weitere Generäle zur Seite gestellt werden.

Die Verluste kann die US-Armee ertragen, doch die Taktik der Fraternisierung mit dem gewöhnlichen irakichen Soldaten dürfte nicht aufgegangen sein: 25 Millionen Flugblätter hat die US-Armee auf die irakischen Soldaten abgeworfen, doch nur wenige wollten sich bislang ergeben. Eigentlich hatten die US-Strategen erwartet, von kapitulationswilligen irakischen Kombattanten begrüßt zu werden.

US-amerikanische Patriot-Raketen holten am Sonntag ein britisches Kampfflugzeug vom Himmel, acht weitere britische Soldaten starben beim Absturz eines Helikopters der US-Armee. Keine guten Nachrichten für Tony Blair, der mit jedem toten britischen Soldaten dem Rücktritt näher kommt. Und wirklich entscheiden darf er in dem Feldzug offenbar auch nicht: Erst 20 Minuten bevor die ersten Raketen in der Nacht von Donnerstag auf Freitag in Bagdad einschlugen, fühlte sich die Bush-Administration bemüßigt, die britische Regierung zu informieren. Die Tomahawk-Marschflugkörper waren zu diesem Zeitpunkt längst im Anflug auf die irakische Hauptstadt.

In einem Telefonat zwischen George W. Bush und Tony Blair gab es tags darauf auch die ersten Unstimmigkeiten zwischen den beiden Oberkommandierenden. Blair bezeichnete die späte Information durch Washington als »unfreundlichen Akt«, der geeignet sei, das Vertrauen zwischen den Alliierten zu untergraben.

Doch vielleicht blieb George W. Bush in jener Nacht gar nichts anderes übrig. Der CIA-Chef George Tenet präsentierte dem Präsidenten im Oval Office Erkenntnisse seiner Agenten über den vermuteten Aufenthaltsort Saddam Husseins und seiner Führungsriege. Nach einer kurzen Diskussion gab der Präsident mit den lapidaren Worten »Let’s go« den Befehl zum Angriff auf einen Gebäudekomplex im Süden der irakischen Hauptstadt. »Offensichtlich haben die Generalität und der Präsident großes Vertrauen auf ihre Untergebenen vor Ort«, analysiert Admiral Stephen Baker, im letzten Golfkrieg Kommandeur der US-Navy im Persischen Golf, Jungle World die Entscheidungsfindung im Weißen Haus. Doch Montagmittag polterte Saddam Hussein im irakischen Fernsehen munter gegen die »Invasoren« los.

Immerhin ein politisches Signal an die zu befreiende irakische Bevölkerung kann aber aus den ersten Bombenangriffen generiert werden: dass nicht die Iraker das Ziel amerikanischen Grolls sind, sondern lediglich deren Regime. »Wenn dies das Signal sein soll, so haben es die Iraker hier aber nicht verstanden. Sie wussten ja ganz genau, dass die ersten Angriffe nur ein Vorgeschmack auf das war, was noch auf sie zukommt«, berichtet Wade Hudson, ein Amerikaner, der in Bagdad weilt, der Jungle World.

Immerhin aber haben es die USA geschafft, das irakische Radio kurz vor den ersten Angriffen zu kidnappen, und ließen den Irakern eine freundliche Botschaft zukommen: »Das ist der Tag, auf den Ihr gewartet habt.« Admiral Stephen Baker erwartet in den nächsten Tagen weitere Meisterstücke der Radiopiraterie: »Die Technologie wäre da, um auch das irakische Fernsehen zu benutzen.« Tommy Franks auf der Mattscheibe – eine angenehme Alternative zum abgewrackten Diktator in Bagdad.

Die Vereinten Nationen, bis vor einigen Tagen noch Brennpunkt der Krise, sind nach Kriegsausbruch in tiefer Apathie versunken und rüsten sich offensichtlich für jene Rolle, die ihnen vom US-amerikanischen Botschafter bei den UN, John Negroponte, in der letzten Sitzung des Sicherheitsrates vor Kriegsbeginn zugedacht worden war: »Die Vereinten Nationen werden eine wichtige Rolle bei der humanitären Hilfe für den Irak spielen.«

Auch UN-Generalsekretär Kofi Annan hat sich kurz vor Kriegsbeginn vor allem auf zwei wesentliche diplomatische Kompetenzen der Vereinten Nationen zurückgezogen. Erstens darauf, Haltung zu bewahren, und zweitens die Arbeit seiner eigenen Organisation eher aus dem Blickwinkel eines Pathologen zu betrachten, der bekanntlich auch immer zu spät kommt: »Wir sind am Ende des Weges angelangt.« Einige Kritiker attestieren dem UN-Generalsekretär deshalb, nicht wirklich tapfer gewesen zu sein. Er hätte der Aufforderung der USA, die Waffeninspektoren abzuziehen, nicht nachkommen dürfen. Dies nämlich verträgt sich nicht mit Artikel 100 der UN-Charta, der klar besagt, dass der Generalsekretär »keine Weisungen der Mitgliedsstaaten entgegennehmen darf«. Der UN-Sicherheitsrat hätte darüber entscheiden müssen. Stattdessen wurde der Sicherheitsrat vom Generalsekretär einfach über dessen Entscheidung informiert. Unilateralismus dürfte also kein exklusives Leiden US-amerikanischer Regierungsvertreter sein.