»Sharon, Arafat und Bush müssen weg«

Tom Segev

Tom Segev ist Historiker und lebt in Jerusalem. In seinem Buch »Die siebte Million« kritisierte er die Auseinandersetzung der israelischen Gesellschaft mit dem Holocaust. Er ist ein Vertreter der so genannten »Neuen Historiker«, und seine Arbeiten über die britische Mandatszeit und die Folgen des Krieges von 1948 lösten in Israel heftige Debatten aus. Für viele Israelis ging die Kritik zu weit, für viele Palästinenser nicht weit genug. In seinem neuen Buch »Elvis in Jerusalem« geht er der Amerikanisierung der israelischen Gesellschaft nach.

Mit Tom Segev sprachen Götz Nordbruch und Mirjam Gläser.

In Ihrem neuen Buch loben Sie die Amerikanisierung der israelischen Gesellschaft. Haben Sie Schwierigkeiten, das Ihren deutschen Lesern zu erklären?

Ja, wenn man in Europa und besonders hier in Deutschland – und zumal in diesen Tagen – von Amerikanisierung spricht, dann verbindet man damit eher eine Kritik, obwohl die Demokratie in Westdeutschland ja aus den USA übernommen wurde. Aber wenn ich das den Leuten sage, sind sie beleidigt und sagen: »Nein, wir hatten die Weimarer Republik, die Demokratie war schon vorher da.« Aber die Weimarer Republik war kurz, und sie gelang nicht. Die Demokratie kam zwangsweise aus Amerika.

Aber Amerikanisierung meint natürlich nicht nur Demokratie, sondern auch Kapitalismus. In Israel ist die Kluft zwischen Arm und Reich heute größer als in den USA, manche Statistiken sagen sogar, sie sei die größte der Welt. Halten Sie mich nicht für einen Propheten der Amerikanisierung! Ich wäre zum Beispiel sehr dagegen, die Todesstrafe einzuführen und dann womöglich einen Premierminister zu haben, der wie George W. Bush 150 Todesurteile unterzeichnete.

Sie sprechen von zwei parallelen Entwicklungen in der israelischen Gesellschaft: einer Amerikanisierung und einer Stärkung der jüdischen Identität. Können Sie Beispiele für diese Entwicklung nennen?

Die zionistische Bewegung hatte die Vorstellung, man könne den Immigranten eine neue Identität aufdrücken. Die Menschen würden ihre alten Identitäten aus den Herkunftsländern vergessen und sich in Israel zu einem neuen Menschen entwickeln. Ein wenig erinnert das an den Melting Pot in den USA. Aber eine Staatsideologie kann eine 2 000jährige jüdische Geschichte nicht einfach auslöschen.

Heute ist es in Israel legitim, der zu sein, der man ist. Man kann, wenn man beispielsweise aus Russland kommt, seinen russischen Namen behalten und russisches Fernsehen gucken. Hier treffen sich Multikulturalismus und jüdische Identität.

Bezieht sich dieser Trend zum Multikulturalismus auch auf die arabischen Israelis?

Ja, er bezieht sich auch auf das Verhältnis zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung. Das Ziel eines jüdischen und demokratischen Staates Israel beinhaltet die Gewährleistung gleicher Rechte für die arabische Minderheit. Genau das ist es auch, was die meisten arabischen Israelis wollen: Bürger Israels sein und gleichzeitig ihre kulturelle Identität behalten. Die Palästinenser wären dann ein Stein in diesem sehr bunten Mosaik der Identitäten und der multikulturellen Existenz Israels. Das ist die post-zionistische Herausforderung, vor der die israelische Gesellschaft steht. Dafür braucht es eine Regelung mit den Palästinensern.

Der arabische Fernsehsender al-Jazeera brachte kürzlich eine Dokumentation über arabische Opfer des Nationalsozialismus. Ein Novum, denn die Realität der nationalsozialistischen Lager wurde nicht relativiert, sondern ausführlich beschrieben. Allerdings endete der Beitrag mit dem Appell, die arabische Welt möge sich ihrer Opfer des Nationalsozialismus erinnern und sie politisch so ausnutzen, wie es die Zionisten getan hätten. Welche Rolle spielt die Erinnerung an den Holocaust im arabisch-israelischen Konflikt?

Ich habe immer gesagt, dass es für die arabische Welt wichtig ist, den Holocaust anzuerkennen. Denn wenn man den Holocaust nicht versteht, kann man keinen Frieden mit Israel schließen. Aber gerade für Palästinenser ist dies schwierig, denn wir streiten eigentlich über die Frage, wer Opfer ist. Man kann den israelisch-palästinensischen Konflikt als einen um den Opferstatus beschreiben. Die Palästinenser fürchten, sie gäben etwas von ihrem Opferstatus auf, wenn sie den Holocaust anerkennen.

In Deutschland gibt es ein großes Interesse an der israelischen Friedensbewegung, mit der man auch die »Neuen Historiker« identifizierte. Mittlerweile mehren sich aber die Stimmen, die enttäuscht darüber sind, dass Protagonisten dieser Bewegung wie Benny Morris oder auch der Schriftsteller Yoram Kaniuk ihre Ansichten grundsätzlich revidieren.

Für Benny Morris trifft das sicherlich zu, und er ist nicht der Einzige. Es gibt viele linksliberale Israelis, die mittlerweile weniger links und weniger liberal sind. Das ist etwas, das der Terrorismus einer Gesellschaft antut, übrigens nicht nur der israelischen. Der Terrorismus kostet Menschenleben, und er führt außerdem dazu, dass Gesellschaften unfähig werden, rational zu denken und zu handeln. Man sitzt mit seinen linksliberalen Freunden im Café und diskutiert über einen palästinensischen Staat und über Menschenrechte. Und wenn man Glück hat, explodiert das Café erst, wenn man wieder weg ist.

Die Israelis nehmen den Terrorismus sehr persönlich. Jeder Mensch weiß, dass der Terrorismus die Existenz des Staates nicht gefährdet, sehr wohl aber das Leben jedes Einzelnen. Man kommt sich blöd vor: Da spricht man über Frieden und Menschenrechte – und dann explodiert der Autobus. Die 15 Menschen, die bei dem Anschlag in Haifa in der letzten Woche getötet wurden, kamen aus bürgerlichen ashkenasischen Familien, die sicherlich nicht für Sharon gestimmt haben. Aber es hat ihnen nichts genützt.

Ich selbst bin nach wie vor der Ansicht, dass wir so schnell wie möglich aus den besetzten Gebieten abziehen müssen und dass die Palästinenser einen eigenen Staat brauchen. Und zwar zu Beginn eines Friedensprozesses und nicht am Ende. Die Palästinenser brauchen etwas, das sie verlieren können. Im Moment haben sie überhaupt nichts zu verlieren. Deshalb können sie alles riskieren.

Man kann den Konflikt jetzt nicht lösen, aber man kann ihn vernünftiger managen. Dafür müssen jedoch erst drei Männer ausgewechselt werden: Sharon, Arafat, Bush. Solange die unser Schicksal bestimmen, sehe ich keine Chance für Veränderungen.

Sie schließen Ihr Buch mit dem Hinweis, immer mehr Israelis könnten sich »ein Leben nach dem Zionismus« vorstellen. Darin sehen Sie eine Normalisierung der israelischen Gesellschaft. Gibt es auch eine Normalisierung der palästinensischen Gesellschaft?

Im Moment ist die Situation der Palästinenser ganz fürchterlich. Seit dem Ende des Friedensprozesses ging eine ganze Generation verloren. Es bedarf einer neuen Generation, für die die nationale Existenz so normal ist wie in Israel. Aber es gibt viele Dinge, die man in der Zwischenzeit tun kann. Momentan ist die Situation unerträglich – hauptsächlich für die Palästinenser, aber auch für die Israelis.

Welche Rolle spielt Europa im Nahostkonflikt?

Auch wenn es absurd klingt: Europa könnte Israel anbieten, im Rahmen eines Friedensabkommens mit den Palästinensern in die EU aufgenommen zu werden. Ich glaube, dass viele Israelis von dieser Idee sehr begeistert wären. Würde man sie vor die Wahl stellen, der 51. Staat der USA oder Teil der EU zu werden, sie würden sich für die EU entscheiden. Sollten die Türkei und Zypern Mitglieder der EU werden, bräuchte man eine Stunde mit der Fähre bis nach Tel Aviv.