Aus der Verfassung

Ein vertrauliches Papier aus dem US-Justizministerium sieht im Namen der Terrorbekämpfung weitere Einschnitte in die Freiheitsrechte vor. von tim blömeke

Über 100 Atomkraftwerke, 276 000 Erdgasquellen, 1,5 Millionen Meilen ungeschützter Pipelines, 161 Ölraffinerien, 2 000 Öllager, über 10 000 Gas-, Kohle- und Wasserkraftwerke. Man addiere ein paar Dutzend Großstädte mit zig Flughäfen, Wasserversorgung, öffentlichen Verkehrsmitteln, Bürokomplexen, Sportstadien und Einkaufszentren. Kaum ein Land der Welt dürfte in seinen Grenzen eine größere Anzahl so genannter Soft Targets beherbergen, wie vor Angriffen schlecht geschützte Ziele im Jargon der Sicherheitsexperten heißen, als die Vereinigten Staaten von Amerika.

Aufrufe an die Bevölkerung zur Ausstattung ihrer Haushalte mit Gasmasken, Textilklebeband und Plastikfolien mögen zwar gut gemeint sein, aber was kann das alles ausrichten, wenn eines schönen Tages mitten im Bombardement des Irak gleichzeitig die Ölspeicher in zehn verschiedenen Häfen von Froschmännern mit Sprengstoffgürteln attackiert, in New York, Los Angeles und Dallas radiologische Bomben gezündet, die Wasserleitungen in fünf weiteren Städten mit Milzbrand kontaminiert und sämtliche Rinder in Texas mit dem BSE-Erreger infiziert würden?

Es ist eindeutig, dass eine Regierung in bedrohlichen Situationen wie der, in der sich die USA derzeit befinden, mehr Spielraum für die präventive Terrorbekämpfung benötigt. Den soll nach dem Willen von John Ashcrofts Justizministerium (DOJ) ein 120seitiger Gesetzesentwurf mit dem bescheidenen Titel Domestic Security Enhancement Act (DSEA) schaffen. Datiert auf den 9. Januar, wurde eine Kopie des als »vertraulich« gekennzeichneten Entwurfes am 7. Februar von unbekannter Seite an das New Yorker Center for Public Integrity weitergeleitet, das ihn prompt veröffentlichte und eine Menge Staub aufwirbelte.

Der Entwurf enthält weitere massive Einschnitte in die bürgerlichen Freiheitsrechte, die bereits im Oktober 2001 durch den praktisch diskussionsfrei verabschiedeten USA Patriot Act massiven Schaden genommen haben.

Der Entwurf sieht vor, dass zum zweiten Mal in 18 Monaten die Abhörbefugnisse des FBI unter der so genannten Wartime Exception des Foreign Intelligence Security Act (Fisa) von 1972 ausgeweitet werden. Gemäß der aktuellen Rechtslage darf das FBI in einem Zeitraum von 15 Tagen nach einer Kriegserklärung durch den Kongress ohne richterliche Genehmigung in die Wohnungen von Verdächtigen einbrechen, um Dokumente zu kopieren und Abhöranlagen zu installieren. Der DSEA sieht vor, die Wartime Exception auch im Falle eines vom Präsidenten ausgerufenen Notstands oder einer Ermächtigung zur Anwendung von Gewalt durch den Kongress anzuwenden – nach den Anschlägen vom 11. September war beides der Fall. Der Fisa dient eigentlich der Bekämpfung von Agenten feindlicher Mächte, und Fisa-Ermächtigungen bedürfen keines Nachweises, dass ein Verbrechen begangen wurde. Im vergangenen Jahr überstieg die Zahl der Anträge auf Abhörgenehmigung unter Fisa erstmals die Zahl der Abhöranträge unter normalrechtlichen Bestimmungen.

Nun soll der Begriff »feindliche Macht« noch derart erweitert werden, dass er auch Einzelpersonen einschließt. Abgesehen von »terroristischen Aktivitäten« sollen in Zukunft »verschwörerische Aktivitäten, die das nationale Sicherheitsinteresse bedrohen«, als Begründung für eine Abhörgenehmigung ausreichen – ein extrem dehnbares Kriterium.

Der DSEA sieht weiterhin vor, dass die US-Regierung nun nach eigenem Ermessen Haftbefehle und Auslieferungsgesuche aus dem Ausland vollstrecken darf. Bisher ist hierfür ein spezielles Abkommen mit dem betreffenden Staat erforderlich, das der Ratifikation durch den Kongress bedarf. Außerdem soll die Regierung nach eigenem Ermessen Staatsangehörige anderer Länder deportieren dürfen, wenn ein »nationales Sicherheitsinteresse« geltend gemacht werden kann. Der Zielort der Deportation muss nicht unbedingt das Herkunftsland der betreffenden Person sein. Jeder Ausländer könnte beispielsweise ohne juristische Probleme auf die US-Militärbasis Guantánamo auf Kuba deportiert werden.

Der sicherlich spektakulärste Aspekt des DSEA ist die Möglichkeit, US-Bürgern ihre Staatsangehörigkeit zu entziehen, wenn das Justizministerium »Schlüsse zieht«, dass der betreffende US-Bürger wissentlich oder unwissentlich eine vom Justizministerium als terroristisch eingestufte Organisation unterstützt. Auf den betreffenden ehemaligen Staatsbürger wären auch alle weiteren Bestimmungen für ausländische Terrorverdächtige anwendbar, z.B. die Möglichkeit der Deportation. Bereits heute kann, wie im Falle des »American Taliban« John Walker Lindh geschehen, ein Bürger als »unlawful combatant« eingestuft und auf unbestimmte Dauer ohne Anklageerhebung festgehalten werden, obwohl der fünfte Verfassungszusatz es der Regierung verbietet, US-Staatsbürger derart zu behandeln.

Mit der DSEA will das Justizministerium zudem die Öffentlichkeit im Gerichtssaal weiter zurückdrängen: Falls gegen einen Angeklagten geheime Informationen als Beweismaterial vorgebracht werden, sollen sie dem Angeklagten und seiner rechtlichen Vertretung nicht zugänglich gemacht werden. Somit hätte der Angeklagte auch keine Handhabe, diese Beweismittel zu entkräften.

Nach Einschätzung des Center for Public Integrity handelt es sich bei dem 120seitigen Papier nicht, wie Sprecher des Justizministeriums behaupten, um ein internes Memorandum, sondern um einen fertigen Gesetzesentwurf. »Das Dokument ist derart lang, dass ich es beim besten Willen nicht mehr als vorläufige Skizze bezeichnen kann«, meint Adam Mayle, ein Reporter für das Center.

Ein in einer Fernsehsendung präsentiertes, ebenfalls vertrauliches Papier des Office of Legislative Affairs, eines Teils des DOJ, zuständig für die Gesetzesentwürfe der Regierung, weist darauf hin, dass zumindest der Sprecher des Repräsentantenhauses, Dennis Hastert, und Vizepräsident Richard Cheney Kopien der Vorlage zur Einsicht und Stellungnahme erhielten. Entsprechend befremdlich ist es, dass ranghohe Mitglieder des Gesetzgebungsausschusses im Senat seit Monaten die Regierung über Vorhaben zur Ergänzung des USA Patriot Act befragen und stets die Antwort erhalten, eine Überarbeitung sei nicht in Planung. Offenbar hatte man im Weißen Haus vor, den Entwurf erst bei einer günstigen Gelegenheit dem Kongress vorzulegen, beispielsweise während eines Krieges oder nach einem weiteren Terroranschlag, wenn sich der Widerstand gegen Regierungsvorhaben leichter als unpatriotisch denunzieren lässt.

Im Zuge der Terrorbekämpfung sind seit dem 11. September in den USA 1 000 bis 2 000 Personen verhaftet worden. Wie viele noch in Gewahrsam sind, weiß wohl nur die Regierung, da Fisa-Bestimmungen bei Ermittlungen gegen Agenten feindlicher Mächte wie z.B. al-Qaida die Behörden von ihrer Informationspflicht entbinden. Kritische Stimmen in den USA sprechen von diesen Geheimhäftlingen als »Desaparecidos«, Verschwundene, wie im Chile der siebziger Jahre. Bei der Behauptung, der DSEA-Entwurf sehe den Abwurf von Desaparecidos aus 10 000 Metern Höhe über John Ashcrofts heimatlichem Missouri River vor, handelt es sich jedoch um ein übles Gerücht, das vermutlich auf die Desinformationstätigkeit terroristischer Gruppierungen zurückgeht.